Talmudisches

Der Turm in der Luft

Foto: Getty Images

Im Buch des Propheten Jeschajahu heißt es: »Wo ist, der zählte, wo, der abwog, wo, der die Türme gezählt hat?« (33,18). Zunächst zum Kontext: Der Prophet ruft die Israeliten zur Gerechtigkeit auf und zählt dabei die Belohnungen eines gerechten Menschen auf. Demjenigen, der »in Gerechtigkeit wandelt« (33,16), wird versprochen, mit ausreichend Nahrung, einer hohen Stellung sowie gʼttlichem Schutz und Offenbarungen gesegnet zu werden (33, 16–17).

Beim Rückblick auf vergangene Schwierigkeiten wird dieser gerechte Mensch sagen: »Wo ist, der zählte, wo, der abwog, wo, der die Türme gezählt hat?« Es liegt nahe, dass hier von den Ungerechten die Rede ist, die nicht mehr präsent sind, obwohl sie einst versuchten, die Türme – die Verteidigungsanlagen – des Gerechten zu zählen, um ihn zu besiegen.

Der Talmud (Sanhedrin 106b) nimmt diesen Vers jedoch scheinbar aus seinem ursprünglichen Kontext und sagt: »Wo ist, der zählte?«, bezieht sich auf denjenigen, der alle Buchstaben der Tora zählte. »Wo, der abwog?« handelt von der Person, die logische Argumente im Studium der Tora abwog. »Wo, der die Türme gezählt hat?« bezieht sich auf Doeg, eine biblische Figur, die König David ausspionierte und in der Lage war, 300 Gesetze zu einem »Turm, der in der Luft fliegt«, aufzulisten.

Rabbi Jehuda ergänzt und sagt, dass Doeg zusammen mit Achitofel, einem weiteren Gegner König Davids, sogar 400 Fragen zu diesem »Turm, der in der Luft fliegt« stellen konnte. Allerdings kamen sie zu falschen Antworten, da ihnen die Gʼttesfurcht fehlte.

Warum nimmt der Talmud den Vers scheinbar radikal aus dem Kontext?

Diese talmudische Passage wirft viele Fragen auf: Warum nimmt der Talmud den Vers scheinbar radikal aus dem Kontext? Was ist die Verbindung zu den Zeitgenossen König Davids? Und vor allem: Was ist denn ein »Turm, der in der Luft fliegt«?

Laut der Mischna im Traktat Ohalot handelt es sich bei dem »Turm, der in der Luft fliegt«, um eine Art Schrank, der die Form eines Turms hat und dessen Schrankfüße so dünn sind, dass es aussieht, als würde er in der Luft schweben. Es geht hierbei um komplexe Regeln der rituellen Reinheit und Unreinheit, die mit diesem Objekt verbunden sind. Kurz gesagt: Wer sich mit diesen Regeln gut auskennt und sogar 300 oder 400 Fragen dazu stellen kann, gilt als ein wirklich großer Gelehrter und steht auf einer Stufe mit den Rabbinern, die jeden Buchstaben der Tora zählten und jedes logische Argument abwogen.

Doeg ist nicht für seine Gelehrsamkeit, sondern für seine Skrupellosigkeit bekannt

Doeg und Achitofel waren Gelehrte von herausragendem Format. Doeg war ein Berater von König Schaul und galt als einer der klügsten Männer Israels. Dennoch ist er nicht für seine Gelehrsamkeit bekannt, sondern vor allem für seine Skrupellosigkeit.

Er hetzte gegen König David und war verantwortlich für den Tod vieler Priester. Achitofel verriet König David und unterstützte die Rebellion von Davids Sohn Avschalom. Achitofel riet Awschalom zu zwei strategischen Maßnahmen: Die Konkubinen Davids öffentlich zu nehmen, um seine Position als neuer Herrscher zu festigen (2. Schmuel 16, 21–22), und einen schnellen und entschlossenen Angriff auf David zu führen, bevor dieser Zeit hätte, sich zu sammeln (2. Schmuel 17, 1–4). Seine Ratschläge waren so gut, dass sie König David hätten stürzen können, wenn Awschalom tatsächlich darauf gehört hätte.

Wir sehen hier zwei Männer, die zwar klug und gelehrt waren, aber ihre Fähigkeiten gegen David einsetzten. David, der Vorfahr des Maschiach, wird im Tanach als Prototyp des Gerechten dargestellt: Er durchlebt große Schwierigkeiten, steht aber am Ende siegreich da.

Die talmudische Interpretation passt daher ideal in den Kontext des Verses. Die Feinde des Gerechten, auf die er rückblickend schaut, sind nicht bloß gewöhnliche Menschen, sondern oft solche, die Wissen und sogar eine spirituelle Aura mit sich bringen. Sie entstammen den eigenen Reihen und nutzen ihre Gelehrsamkeit, jedoch ohne Gʼttesfurcht.

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  16.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025