Behandlung

Der Truthahn-Prinz

Was Rabbi Nachman den Psychotherapeuten C.G. Jung, Milton H. Erickson und Carl Rogers voraushatte

von Rabbiner David Kraus  30.03.2023 10:55 Uhr

Rabbi Nachman von Bratzlaw erzählte einst die Geschichte von einem Prinzen, der plötzlich verrückt wurde und meinte, er wäre ein Truthahn. Foto: picture alliance / Westend61

Was Rabbi Nachman den Psychotherapeuten C.G. Jung, Milton H. Erickson und Carl Rogers voraushatte

von Rabbiner David Kraus  30.03.2023 10:55 Uhr

In der Fernsehserie von Stephen Segaller mit dem Titel The Wisdom of the Dream – The World of C. G. Jung (Über das Leben und Werk von C. G. Jung) wird in einer Szene geschildert, wie Jung eine psychisch kranke Frau behandelt. Die Frau war davon überzeugt, dass sie auf dem Mond sei.
Jung versuchte gar nicht erst, sie davon zu überzeugen, dass sie falsch lag. Im Gegenteil, er stimmte ihr zu, dass sie sich auf dem Mond befinde. So schuf er eine therapeutische Verbindung, die es ihm ermöglichte, die Frau zu heilen. Jung merkte an, dass sie sogar heiratete.

Der israelische Psychologe Yossi Lev verfasste dazu in einer seiner spannenden akademischen Schriften, dass Jung hier die therapeutische Technik »Pacing and Leading« anwandte – Jung also zunächst an die Lebenswelt der Frau anknüpfte und später die Führung übernahm. Außerdem erkannte er hier den therapeutischen Ansatz: »Unconditional positive regard« – was bedeutet, dass man dem Patienten mit einer bedingungslos positiven Wertschätzung begegnen muss, ihn also vorbehaltlos anzunehmen hat.

»Pacing and Leading« ist ein Begriff, der von dem renommierten Therapeuten Milton H. Erickson geprägt wurde. Der Begriff »Unconditional positive regard« steht im Mittelpunkt der humanistischen Psychotherapie von Carl Rogers.

TECHNIKEN Jedoch war es Rabbi Nachman, der uns diese Techniken bereits lange vor Jung, Erickson und Rogers offenbarte. Der Bratzlawer Rebbe erzählte von einem Prinzen, der plötzlich verrückt wurde und meinte, er wäre ein Truthahn.

Der »Truthahn-Prinz« zog sich aus, saß nackt unter dem königlichen Tisch und ernährte sich von Essensresten am Boden. Alle königlichen Ärzte und Helfer versuchten, den »Truthahn-Prinzen« davon zu überzeugen, dass er völlig falsch lag. Doch dann kam ein Weiser Israels, zog sich ebenfalls aus und setzte sich nackt zum Prinzen unter dem Tisch, mit dem Argument, selbst ein Truthahn zu sein.

Der Weise setzte sich zu dem Prinzen und nahm seinen Patienten an, wie er war.

Der Weise fungierte sozusagen als Therapeut und nahm seinen Patienten bedingungslos an, wie er war, mit seinen Mängeln, Fehlern und negativen Seiten. Ziel war es, eine Beziehung aufzubauen, die den Prinzen nicht bedrohte und ihm erlaubte, seine innere Welt frei und ohne Abwehr zu kommunizieren.

Durch das Verständnis und die Akzeptanz des Therapeuten verspürt der Patient eine größere Bereitschaft, sich selbst zu verstehen und zu akzeptieren. Er erlaube sich, so sagt der schottisch-amerikanische Psychiater Donald Ewen Cameron, der vor allem durch seine Arbeiten im Bereich der Bewusstseinskontrolle für die CIA bekannt geworden ist, »verbotene« Gefühle und Gedanken freier auszudrücken, Erfahrungen, die er zuvor von sich selbst fernhielt, zu untersuchen und in sein Selbstkonzept zu integrieren.

Jung sagte, er habe die Lebensrealität der Patientin, dass sie auf dem Mond lebe, akzeptiert, sie also genau so angenommen, wie sie ist, und somit interessierte er sich ehrlich und ohne Kritik für ihr Handeln. Es gelang ihm, Kontakt und Vertrauen zu ihr herzustellen, und gemeinsam konnten sie sich beraten, diskutieren und Entscheidungen treffen. Auf diese Weise vermochte es Jung, seine Patientin wieder in die »normale« Realität zurückzubringen.

MUSTER Lev sagt, dass dieses therapeutische Muster auch sehr deutlich aus der Handlung in der chassidischen Erzählung von Rabbi Nachman hervorgehe. Der »Truthahn-Prinz« und der Weise saßen nämlich eine Zeit lang unter dem Tisch zusammen, bis sie gute Freunde wurden. Eines Tages gab der Weise den Dienern des Königs ein Zeichen, ihm Hemden zuzuwerfen. Hier begann er, »Führung« zu übernehmen. Er sagte zu dem Prinzen: »Wie kommst du darauf, dass ein Truthahn kein Hemd tragen kann? Du kannst ein Hemd tragen und trotzdem ein Truthahn sein.« Daraufhin zogen die beiden ein Hemd an.

Nach einer Weile gab der Weise erneut ein Zeichen, und sie warfen ihm eine Hose zu. Wie zuvor fragte er: »Wie kommst du darauf, dass du kein Truthahn sein kannst, wenn du eine Hose trägst?«

Der Weise fuhr damit so lange fort, bis sie wieder vollständig angezogen waren. Dann gab er ein Zeichen, der Prinz möge normales Essen vom Tisch holen, und fragte ihn: »Wie kommst du darauf, dass du aufhörst, ein Truthahn zu sein, wenn du gut isst? Du kannst essen, was du willst, und trotzdem ein Truthahn sein!« Sie aßen beide das Essen.

Schließlich sagte der Weise: »Wie kommst du darauf, dass ein Truthahn unter dem Tisch sitzen muss? Auch ein Truthahn kann am Tisch sitzen.« Der Weise fuhr auf diese Weise fort, bis der Prinz vollständig geheilt war.
Jung erklärte, dass seine Patientin ihm eine Fantasie geschildert habe, in der es um einen männlichen Dämonenvampir gegangen sei, der eine Frau und Kinder, die auf dem Mond lebten, entführt und getötet habe. Sie habe beschlossen, den Vampir zu töten, aber sobald sie ihn erstechen wollte, sei sie von seiner Schönheit geblendet worden und habe ihr geistiges Gleichgewicht verloren.

INZEST Jung war der Ansicht, dass diese Fantasie das Ergebnis eines früheren Inzests war. Die Frau habe sich vor den Augen der Welt gedemütigt gefühlt, und sie habe sich erst in der Fantasiewelt wieder wohlgefühlt. Infolgedessen habe sie sich vollständig von der Welt gelöst, sei in einen Zustand der Psychose gefallen und habe den Kontakt zu ihren Mitmenschen verloren.

Sie sei in eine kosmische Ferne entschwebt, in den Weltraum, wo sie den geflügelten Dämon getroffen habe. Lev merkt in seiner Ausführung an, dass Jung sagte, die Frau habe, während sie ihm diese Geschichte erzählte, das befreiende Gefühl gehabt, den Vampir dadurch zu verraten. Durch diesen Akt der Befreiung ermöglichte es Jung der Frau, sich erneut mit den Menschen auf der Erde zu verbinden. Lev weist darauf hin, dass Jung den Wahnsinn seiner Patientin wie folgt beschrieb: »Sie fühlt sich in den Augen der Welt gedemütigt, aber in der Fantasiewelt wohl.«

FLUCHT Wir sprechen also von einer Flucht, weg von einer harten und ungewollten Realität und hin zu einer tröstlichen Fantasie. Der »Truthahn-Prinz« des Rabbi Nachman ist auch aus irgendeinem Grund in eine Fantasie geflohen. Jeder von uns kennt diese schmerzhaften Momente, in denen dir jemand einen Schuh mit voller Wucht gegen den Kopf knallt – in Form einer abwertenden Aussage, eines erniedrigenden Blicks oder einer verletzenden Kritik.

Rabbi Nachman sagte, jemanden auf den Boden zu werfen, das gehe sehr schnell und einfach. Aber jemanden aufzubauen, ihm zu zeigen, was wirklich in ihm stecke, das könnten leider nur sehr wenige Menschen, denn viele wählten hier den falschen Weg. Auf jeden Fall zeigen diese Schilderungen deutlich, dass es sehr gefährlich für die psychische Gesundheit werden kann, wenn Menschen hart und grob, gemein und betrügerisch oder kriminell miteinander umgehen.

Des Weiteren lernen wir hier als praktisches Beispiel für unseren Alltag, dass wir, wenn uns jemand seine Geschichte erzählt, wie Jung und Rabbi Nachman reagieren sollten, indem wir die innere psychische Erfahrung des Redners respektieren und akzeptieren, ohne sie zu werten.
Was Jungs psychotische Patientin betrifft, so war der Besuch auf dem Mond aus ihrer Sicht real, ebenso wie der Prinz sein Leben als Truthahn real erlebte. Doch in Wahrheit war alles nur eine Fantasie, hinter der sich deren wahrer Zustand verbarg. Jung sagte, es sei nach alldem, was die Patienten im »wirklichen Leben« erlitten hatte, kein Wunder, dass sie in den Weltraum entschwebt sei.

Frankl rät Patienten, das zu tun oder sich vorzustellen, was sie am meisten fürchten.

So wie Rabbi Nachman es in seiner Geschichte schilderte, so nahm Jung seine Patientin ernst und konnte der Frau auf dem Mond helfen, sich wieder ganzheitlich mit der Welt, der »wahren Realität«, zu verbinden. Die innere Realität ist also sehr wichtig und reichhaltig. Lev identifizierte in den Geschichten auch eine »paradoxe Intervention«. Dazu gibt es eine hervorragende Erklärung im Lexikon: »Unter einer paradoxen Intervention versteht man in der Regel verschiedene psychotherapeutische Methoden, die in scheinbarem Widerspruch zu therapeutischen Zielen stehen, die aber tatsächlich dafür entworfen sind, diese Ziele zu erreichen.«

INTERVENTION Alfred Adler gilt weithin als der erste Therapeut, der sich ausdrücklich paradoxer Interventionen bediente. Knight Dunlap entwickelte in den 1920er-Jahren einen Ansatz, den er als »negative Praxis« bezeichnete. Dabei ging es darum, Verhaltensweisen, die man abstellen wollte, bewusst zu praktizieren, anstatt zu versuchen, sie zu vermeiden. Dunlap sah dies als eine Möglichkeit, sie unter Kontrolle zu bringen. Dabei argumentierte er gegen das Gesetz der Gewohnheitsbildung, das besagt, dass die Wiederholung einer Reaktion die Wahrscheinlichkeit ihres erneuten Auftretens erhöht.

Der vielleicht bekannteste Therapeut, der paradoxe Interventionen einsetzte und den Begriff als Erster ausdrücklich verwandte, war Viktor Frankl. Im Rahmen seiner Logotherapie entwickelte er die sogenannte paradoxe Intention, bei der er Patienten dazu ermutigte, das zu tun oder sich zu wünschen, was sie am meisten fürchteten. So wurde beispielsweise ein Patient, der große Angst vor Verunreinigungen hatte, dazu angehalten, sich zu wünschen, sich so schmutzig wie möglich zu machen. Es kann aber auch die Angst vor einem Herzinfarkt oder einem schweren Unfall sein.

Paaren, die mir erzählen, sie würden nicht miteinander reden, rate oder verschreibe ich Folgendes: Sie sollen sich nebeneinander an den Strand legen, dürfen dabei aber kein Wort miteinander wechseln. Und dreimal darfst du raten, was sie mir bei der nächsten Sitzung berichten. Genau! Sie haben endlich einmal wieder miteinander gesprochen. Dies ähnelt sehr einem Phänomen, das später als »Symptomverschreibung« bezeichnet wurde. Der Mensch muss den goldenen Weg finden: Wie er soziale Aufgaben erfolgreich erfüllt und andererseits ganz und zufrieden mit dem ist, was er tut. Das Glück geht manchmal verschlungene Wege.

Der Autor ist Rabbiner, Paar- und Familientherapeut in Jerusalem. Er ist Verfasser des Buches »Der fröhliche Rabbi und die verschlungenen Wege zum Glück«.

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