Talmudisches

Der Ölhändler

Das Gold des Mittelmeers: Olivenöl Foto: Getty Images/iStockphoto

Talmudisches

Der Ölhändler

Warum man einem Menschen Reichtum nicht ansehen muss

von Noemi Berger  17.09.2020 13:30 Uhr

Eines Tages benötigten die Einwohner der antiken Stadt Laodicea im heutigen Syrien eine große Menge Öl (Menachot 85b). Da wählten sie aus ihrer Mitte einen zuverlässigen Mann und gaben ihm den Auftrag: Zieh aus und bring uns Öl für einen Betrag von 100 Myriaden.

Der Mann reiste zunächst nach Jerusalem. Dort suchte er nach dem größten Olivenhain und brachte sein Anliegen vor. Doch man sagte ihm: Geh nach Tyros. Also machte er sich auf den Weg in die große Handelsstadt. Aber auch da hatte er kein Glück. Man erklärte ihm, für eine so große Menge Öl solle er nach Gusch-Chalaw im Galil reisen. Vielleicht könne man ihm dort helfen.

Als er nach etlichen Tagen in Gusch-Chalaw angelangt war und seinen Auftrag endlich ausführen wollte, erhielt er die Auskunft: Begib dich zu einem bestimmten Mann, der gerade auf seinem Feld arbeitet.

Geduld Er machte sich auf den Weg und traf den Mann dabei an, wie er die Erde unter den Ölbäumen auflockerte. Voller Ungeduld fragte er den Landwirt, ob er ihm Öl im Wert von 100 Myriaden verkaufen könne. Der Mann sah zu ihm auf und erwiderte: »Bitte gedulde dich, bis ich meine Arbeit beendet habe.«

Der Reisende wartete. Er musste sich der Bitte des Landwirts fügen und so lange ausharren, bis der Mann sein Tagwerk verrichtet hatte. Gegen Abend, als der Bauer fast fertig war, räumte er noch Steine vom Feld fort, nahm sein Gerät auf die Schulter und machte sich wie ein einfacher Tagelöhner gemeinsam mit dem Mann aus Laodicea auf den Heimweg.

Jener aber dachte bei sich: »Dieser arme Mann soll für 100 Myriaden Öl besitzen? Die Judäer haben wohl ihren Spott mit mir getrieben, als sie mir sagten, ich solle hierherkommen.«

Wohlstand Nach einer Weile gelangten beide in die Stadt und erreichten das Haus des Mannes. Der Laodicäer war erstaunt: Er sah ein großes herrschaftliches Haus mit einem riesigen Garten, in dem die schönsten Blumen und Sträucher wuchsen. Und er staunte noch mehr, als eine Dienerin ihm entgegenkam und ihm ein silbernes Becken mit heißem Wasser brachte. Nach orientalischer Sitte bat ihn der Landwirt, sich darin die Hände und Füße zu waschen.

Nachdem er von einem Diener mit einem feinen Tuch abgetrocknet worden war, erschien ein anderer Diener mit einer goldenen Schale duftenden Öls. Der Gast wurde gebeten, seine Hände und Füße hineinzutauchen. Der Händler nahm all dies dankbar an. Nach der langen Reise schmerzten ihm die Füße, und das warme Öl empfand er als Labsal.

Dann bat sein Gastgeber ihn in einen anderen Raum. Dort stand ein reich gedeckter Tisch mit den köstlichsten Speisen und Getränken.
Nachdem die beiden Männer gegessen und getrunken hatten, maß der Besitzer dem Mann aus Laodicea für 100 Myriaden Öl ab und fragte: »Vielleicht brauchst du noch mehr?«

Grossmut Der Beauftrage aus Laodicea erwiderte: »Ja, aber ich habe kein Geld mehr.« Da sagte der Ölhändler: »Sei unbesorgt, ich gebe dir das Öl, begleite dich dann und werde mein Geld schon einziehen.« Und so maß er ihm noch für weitere 18 Myriaden Öl ab.

Man erzählt sich, dass der Käufer des Öls alle Pferde, Maultiere und Kamele mietete, die es damals im Land Israel gab, um seine Last nach Hause zu bringen. Als er mit dem Öl nach Laodicea kam, zog ihm die ganze Stadt entgegen, um ihn zu preisen. Da sagte er: »Nicht mir gebührt der Ruhm, sondern diesem Mann hier, der mir nicht nur für 100 Myriaden Öl verkaufte, sondern auch noch weitere 18, für die er mir das Geld vertrauensvoll geliehen hat.«

Der Talmud fasst zusammen: »Und so wurde erfüllt, was in den Sprüchen Salomos geschrieben steht: ›Mancher scheint arm und hat doch großes Gut‹ (13,7).« Und wir wissen auch: So mancher stellt sich reich und hat doch nichts.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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