Theologie

Der Jesus-Mythos

Um sich vom Judentum abzugrenzen, argumentieren christliche Autoren häufig historisch ungenau

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  14.01.2013 19:09 Uhr

Nachfolge: Jesus-Darsteller in der Jerusalemer Altstadt Foto: Flash 90

Um sich vom Judentum abzugrenzen, argumentieren christliche Autoren häufig historisch ungenau

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  14.01.2013 19:09 Uhr

Die Bibel gibt uns immer wieder Rätsel auf. Keine Frage. Vor Kurzem strahlte das ZDF eine zweiteilige Dokumentation aus, in der die Theologin Margot Käßmann »Bibelrätsel« lösen wollte. Um einzelne Theorien und Aussagen der Heiligen Schrift zu bekräftigen, wurde in der »Terra-X«-Folge sowohl wissenschaftlich als auch theologisch objektiv unter Heranziehung zahlreicher Beispiele aus der Bibel und verschiedener anderer Quellen, insbesondere der Archäologie, argumentiert. Ob man diesen Argumentationen folgen mag, bleibt jedem selbst überlassen. Aber zunächst einmal ist jede Theorie, die sich plausibel erklären und belegen lässt, durchaus legitim.

Seltsamerweise änderte sich diese rationale Herangehensweise des Fernsehbeitrages genau in dem Moment, in dem Jesus ins Spiel kam. Die Argumentation wurde mit einem Mal unwissenschaftlich, ahistorisch und theologisch ungenau. An dieser Stelle soll aber nicht eine verspätete Kritik an besagter TV-Doku abgegeben werden, sondern vielmehr die grundsätzliche Frage gestellt werden, warum das so ist. Aus welchem Grund wird der Mythos um die Figur Jesu in dieser Form weiter gepflegt und transportiert, und welche Auswirkungen hat das auf die Beurteilung des Judentums?

krise Oft wird behauptet, G’tt sei in der Zeit des Römischen Reiches zu abstrakt für die Menschen geworden, was den Glauben in eine Krise gestürzt hätte. Das Christentum habe dann mit Jesus die entscheidende Lösung gefunden: Durch die Fleischwerdung wäre G’tt den Menschen nähergekommen und habe nun allen einen Zugang zum Glauben geben können.

Zunächst ist festzuhalten, dass sich das Judentum zu keiner Zeit in einer (Glaubens-)Krise befand. Ganz im Gegenteil: Gerade vor 2000 Jahren blühte das jüdische Leben. Es war eine kreative Zeit, in der viele Gruppierungen innerhalb des Judentums entstanden und in der die rabbinische Literatur ihren Anfang nahm. Der Tempel wurde so gut und oft besucht wie nie zuvor, und dies nicht nur von Juden, sondern auch von Nichtjuden, wie Flavius Josephus berichtet. (Die Juden liebten den Tempel und trauern bis heute an Tischa be Aw um dessen Zerstörung.)

Es ist auffällig, dass in Bezug auf diesen Punkt immer wieder inhaltliche Fehler produziert und reproduziert werden. Nur ein Beispiel: Der Tempelbesuch von Pompejus wurde angeblich von den Juden als Frevel verstanden, weil er ein ungläubiger Heide gewesen sei, dem das verboten war. Das stimmt so nicht. Nichtjuden hatten selbstverständlich Zugang zum Tempel.

So gab es im zweiten Tempel den »Hof der Nichtjuden«. Nichtjuden gaben auch Opfer an den Tempel, was aus jüdischer Sicht unproblematisch war. Allerdings verärgerte Pompejus die Menschen in Jerusalem, weil er Teile des Tempels besuchte, die aus rituellen Gründen nur Priestern oder dem Hohepriester vorbehalten waren (Flavius Josephus, Jüdische Altertümer). Man darf die Situation von heute nicht auf die Antike übertragen. Das Judentum war Nichtjuden gegenüber aufgeschlossen, und Juden hatten Umgang mit ihnen. Dies bezeugen Konversionen, deren Präsenz im Tempel und Geschichten im Neuen Testament (Lukas 7, 1-10).

institution Schließlich besuchte Jesus selbst den Tempel, und auch seine Nachfolger beteten weiterhin dort, wie in der Apostelgeschichte nachzulesen ist. Matthäus 21, 12-13 muss direkt mit dem Zitat des Propheten Jeremia (7,11) verstanden werden, das heißt, Jesus kritisiert weder den Tempel als Institution an sich noch die Priester, sondern vielmehr diejenigen Besucher des Heiligtums, die schlecht handelten und dachten, dass sie sich durch das Darbringen von Opfergaben von ihren Sünden einfach freikaufen könnten.

Es ist sicherlich richtig, dass das Judentum heute Konversionen gegenüber reservierter ist als in der Antike, aber das hat viel mit der Erfahrung in der christlichen Umwelt zu tun, in der Juden lebten und leben. Über Jahrhunderte hinweg war es Juden schlicht verboten, Christen in ihre Glaubensgemeinschaft aufzunehmen. Drastische Strafen drohten bei Missachtung dieser Regelung. Das hat nichts mit ausgrenzendem oder stammesbewusstem Denken zu tun, sondern mit Lebensrealität und Erfahrung – die allerdings erst nach der Antike mit Erstarken des Christentums eintrat.

Auch war G’tt den Juden dieser Zeit keineswegs entrückt oder fern. Die jüdische Liturgie wie auch der Tempeldienst bezeugen eine enge Beziehung zu G’tt. Das hebräische Wort für (Tempel-)Opfer ist »Korban«. Dieses Wort besteht aus der Wurzel »kuf, reisch, vav«, was so viel wie nahekommen bedeutet. Die Opfer brachten die Juden also näher zu G’tt, genauso wie die Gebete, die auf den Opfern des Tempels basierten. G’tt war den Menschen also schon vor Jesus nahe; nicht er war es, der das erst ermöglichte. Wir Juden glauben generell daran, dass G’tt sich für unsere Belange interessiert.

Wir haben keinen Glauben an einen fernen G’tt, sondern eine Religion, die fest im Hier und Jetzt verankert ist, eine Religion, die aus der Tora – und damit dem Wort G’ttes – direkt das Handeln ableitet. Ein Handeln, das immer wieder hinterfragt, erneuert und debattiert wird. Das Judentum ist eine Religion, in der die Nähe zum Schöpfer besonders stark ausgeprägt ist.

vaterfigur Jesus ist auch keineswegs derjenige, der G’tt als Vaterfigur »erfindet«, wie immer wieder behauptet. Es stimmt, dass Jesus G’tt »Abba« nennt (Markus 14,36, vgl. auch Römer 8,15 und Galater 4,6), aber das ist weder eine Provokation für die anderen Juden dieser Zeit, noch ist es neu. Eine solche Annahme ignoriert schlicht die vielen biblischen und nachbiblischen Verwendungen von »Vater« für G’tt im Judentum (Psalm 68,5 und 89,26, Jesaja 64,8, Jeremia 31,9, Flavius Josephus Ant. 5,93 und 7,380, in den Qumran-Schriftrollen, BT Taan. 23b und 25b etc.).

Jesus war keine völlig überraschende, neue Persönlichkeit, die sich komplett unterschied von allen anderen Juden seiner Zeit, sondern genauso ein Teil des normativen Judentums. Er befolgte die jüdischen Gebote. Er trug die rituellen Schaufäden (Zizit, vgl. 4. Buch Mose 15, 38-39, 5. Buch Mose 22,12), welche ihn an die Tora erinnern sollten (Matth. 9,20, Lukas 8,44, Matth. 14,36, Markus 6,56), er hielt den Schabbat und stritt mit anderen über und für die genaue Einhaltung der Gebote.

Das würde wohl kaum einer tun, dem das nicht wichtig erscheint oder der diese Gebote nicht selbst hält; vielleicht hatte er in einzelnen Aspekten eine abweichende Meinung von der anderer jüdischer Gruppierungen, aber das war in der Antike durchaus üblich. Vielmehr basiert ja seine zentrale Botschaft, das »Höchste Gebot« – auf seinem jüdischen Glauben. Es ist dies die Liebe zu G’tt (5. Buch Mose 6,5) und die Nächstenliebe (3. Buch Mose 18,19). Wir könnten hier beliebig fortfahren.

quellen Die frühe Christengemeinde war mit Sicherheit stark jüdisch geprägt. Der neueste Stand der Wissenschaft geht inzwischen davon aus, dass sich das Christentum erst sehr spät vom normativen Judentum getrennt hat. So zitieren von den 8000 Versen des Neuen Testaments mehr als 250 den Tanach, weitere 500 spielen direkt auf Stellen im Tanach an, und wiederum eine noch größere Zahl verweist mehr oder weniger indirekt auf ältere jüdische Quellen.

Jesus und seine Jünger haben also weder etwas neu erfunden noch radikal verändert. Dies gilt nicht nur für G’tt als Vaterfigur, sondern genauso für den Universalismus. Es gibt viele Stellen im Tanach, die eindeutig universalistisch sind: vom Bund G’ttes mit Noach, der für alle Menschen gilt, über den Auszug aus Ägypten, dem sich auch Nichtjuden anschlossen, bis hin zur Grundlage von Ethik und Moral.

Explizit universalistisch wird der Tanach insbesondere, wenn es um die ideale Zukunft, also die messianische Zeit, geht (z.B. Jesaja 2, 1-4, Jeremia 3,17, Micha 4, 1-3). Dass das frühe Christentum als messianische Bewegung einen Schwerpunkt auf den Universalismus legt, ist wohl nicht überraschend. Das Phänomen, Nichtjuden die Lehre G’ttes näherbringen zu wollen, gibt es allerdings nicht erst seit Jesus.

Der jüdische Philosoph Philo (20 v.d.Z.–50 n.d.Z.) beispielsweise war glücklich über die griechische Übersetzung des Tanach, die Septuaginta, weil »diese bewundernswerten, und unvergleichlichen, und höchst wünschenswerten Gesetze allen Menschen bekannt wurden«. Er drückte seine Hoffnung aus, dass nach Lektüre der Tora die Mehrheit der Menschen zum Judentum übertreten würde, weil sie nun G’ttes Gebote kennen und schätzen lernen würde.

Neueste Forschungen legen zudem nahe, dass auch die späteren Rabbiner die Septuaginta keinesfalls ablehnten. Dieser Universalismus spiegelt sich generell in der rabbinischen Literatur wider. Um auf den Messianismus zurückzukommen, lässt sich festhalten, dass auch hier mit der Figur Jesus keine Einzigartigkeit vorliegt.

klischees Es ist mir wichtig zu betonen, dass ich weder den Glauben an Jesus noch theologische Schlüsse daraus in irgendeiner Weise infrage stellen möchte. Es ist mir aber ebenso wichtig, dass diese Preisung nicht auf Kosten des Judentums geht. Es gibt leider immer noch viele Stereotype das Judentum betreffend – ganz allgemein und im Besonderen zur Zeit Jesu. Diese Klischees haben ihren Ursprung im ambivalenten Verhältnis der Kirche zum Judentum; und was das Judentum zur Zeit Jesu angeht, vor allem in den Theorien des Theologen und Bibelkritikers Julius Wellhausen (1844–1918) sowie des Kirchenhistorikers Adolf von Harnack (1851–1930).

Leider sind manche Standardwerke, wie das von Gerhard Kittel (1888–1948) herausgegebene Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament, noch problematischer, weil der Herausgeber selbst und wichtige Autoren nachgewiesene Antisemiten und Mitglieder der NSDAP oder der SS waren. Viele Artikel wurden Ende der 30er-Jahre geschrieben und spiegeln die politische Situation wider. Wenn Juden negativ beschrieben oder Unterschiede zu Jesus etabliert werden, die historisch nicht haltbar sind, sollte das nicht überraschen. Leider wird immer noch auf dieses Werk referiert, obwohl es antijüdische Vorurteile enthält.

Liest man zeitgenössische Wissenschaftler und Theologen – wie Abraham Geiger (1810–1874) –, dann zeigt sich schnell, dass Wellhausen in vielen Punkten mit Geiger übereinstimmt. Wenn es aber um die Persönlichkeit Jesu geht, siegt die Ideologie über die Vernunft. Wellhausen und andere projizierten ihre eigene Zeit auf die Zeit Jesu. Alles, was mit ihrer Ansicht nicht übereinstimmte, wurde passend gemacht, anstatt objektiv mit Fakten zu arbeiten. Ich plädiere dafür, Jesus, das frühe Christentum und das Judentum seiner Zeit so zu nehmen, wie sie waren.

Der Autor ist Rabbiner der Hauptsynagoge in Sofia/Bulgarien.

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