Toldot

Der gute Moment

»Isaak segnet Jakob«, Ölgemälde des spanischen Malers Bartolomé Esteban Murillo, um 1670 (Eremitage St. Petersburg) Foto: picture alliance / akg-images

In unserem Wochenabschnitt geht es um Jizchak. Der Titel »Tol­dot« hat zwei Bedeutungen: »Nachkommenschaft« und »Geschichten«. Der Abschnitt bietet die Gelegenheit, alles zu erzählen, was es über Jizchak zu berichten gibt.

Fragen wir Menschen, die regelmäßig in die Synagoge gehen, welche besonderen Ereignisse mit dieser Parascha verbunden sind, so werden sie uns sagen, dass es hauptsächlich darum geht, dass Esaw sein Erstgeburtsrecht an Jakow verkauft und Jakow später seinem blinden Vater, Jizchak, den Segen »stiehlt«. Jizchak – der anscheinend nichts von dem Verkauf des Erstgeburtsrechts wusste – wollte Esaw segnen, aber Riwka schlägt vor, dass Jakow den Segen auf eine trickreiche Weise erhalten sollte.

Diese Ereignisse sind sehr detailliert beschrieben und wecken das Interesse der Zuhörer. Allerdings fehlen uns viele Informationen: Wer war dieser mittlere Vorfahre Jizchak, und welche Bedeutung hat er? Sollte dieser Wochenabschnitt nicht ihm gewidmet sein?

EINKLANG Unsere Überlieferung sagt uns, dass unsere Vorväter eine bemerkenswerte Leistung vollbracht haben, indem sie die geistigen Grundlagen der jüdischen Seele gelegt haben. Es ist kein Zufall, dass es drei Vorväter waren, die drei entscheidende Aspekte verwirklichten, die sich als These – Antithese – Synthese in Einklang bringen lassen.

Der erste war Awraham, und seine Essenz war »Chesed«, liebende Güte. Dies musste der erste Aspekt sein, den es zu vervollkommnen galt, da die ganze Welt auf der Idee des »Gebenwollens« aufgebaut ist (siehe auch Psalm 89,3). Der Allmächtige hat die Welt erschaffen, um Geschöpfe zu haben, die von Ihm profitieren können. Er wollte sie mit seiner Güte beschenken.

Daher finden wir, dass unser Vorvater Awraham Chesed verkörperte, indem er einen unglaublichen Reichtum anhäufte, von dem aus er eine gigantische »Wohltätigkeitsorganisation« leiten konnte, die Hunderte von Menschen beherbergte und »das Haus Awrahams« genannt wurde (1. Buch Mose 14,14).

Sein Sohn Jizchak musste daher das Gegenteil von Chesed sein: Gwura (Stärke) und Din (strenges Urteil). Im Gegensatz zum reinen Geben aus Liebe und Mitgefühl verkörperte Jizchak jemanden, der völlig »dem Buchstaben des Gesetzes« folgt. Wenn jemand Gutes verdient, sollte er es bekommen – wenn er es nicht verdient, dann nicht.

Traditionell werden diese beiden Gegensätze oft als Synonym für Gut und Böse angesehen. So auch, wenn wir über die verschiedenen Arten sprechen, wie der Allmächtige sich zu uns verhält (was wir »Haschgacha« nennen – göttliche Vorsehung): Es gibt den barmherzigen Vater, der alles vergibt, was gegen ihn begangen wurde, und es gibt den strengen Richter, der denjenigen bestraft, der es verdient, bestraft zu werden.

BARMHERZIGKEIT Wir müssen etwas tiefer blicken, um besser zu verstehen, wer unser Vorfahr Jizchak wirklich war. Natürlich war er weder böse noch urteilte er streng. Ganz im Gegenteil: Wir sehen, dass er seinem Sohn Esaw gegenüber sehr barmherzig war und vorhatte, ihn zu segnen, trotz all seiner Unzulänglichkeiten.

Wie können wir also verstehen, dass er den Charakterzug der Strenge verkörpert hat? Schauen wir uns an, wie Haschem ihn segnete, als Er ihm erschien. Er versprach Jizchak alles Gute und jeden Segen der Welt, »weil Awraham auf Meine Stimme hörte und Meine Schutzmaßnahmen, Meine Gebote, Meine Verordnungen und Meine Gesetze beachtete« (1. Buch Mose 26,5).

Dies ist der Segen, den ein treuer Sohn bekommt, dessen Hauptmotivation darin besteht, die Regeln zu befolgen und alles nach seiner systematischen, g’ttlichen Ordnung zu halten.

segen Jizchak erhält den Segen nicht aus eigenem Antrieb, sondern wegen Awraham. Nicht, dass er es nicht verdient hätte. Ganz im Gegenteil: Ihm gebührt größtes Lob dafür, dass er bereit ist, sich im großen Licht seines Vaters Awraham zweitrangig, ja, fast durchsichtig zu machen. So auch in seinen Geschichten, die in der Tora fehlen: Er macht sich klein und fast unsichtbar.

Mit dieser Mission der »Vervollkommnung der Vollkommenheit« ebnet Jizchak den Weg für unseren nächsten Vorfahren, Jakow, der – so scheint es – der eigentliche Protagonist unseres Wochenabschnitts ist.

Die Welt von Jakow ist, wie bereits angedeutet, die Kombination der beiden vorher genannten Charakterzüge. Er balanciert die Barmherzigkeit von Chesed und die Strenge von Gwura aus und wendet das Thema in einer perfekten Mischung an, wobei er mit ständiger Beherrschung misst, was wann notwendig ist.

VERBINDUNGSGLIED Mit dieser Hintergrundinformation können wir alle Ereignisse, die in unserem Wochenabschnitt erwähnt werden, besser einschätzen. Wir beginnen mit der Erwähnung von Jizchak, gehen aber schnell zu seinen Söhnen Jakow und Esaw über, da Jizchak sich selbst als zweitrangig und nur als Mittel, als eine kleine Kette zwischen seinem Vater und seinen Söhnen betrachtet.

Dann erfahren wir vom Verkauf des Erstgeburtsrechts, bei dem Jakow seine »Flexibilität« einsetzt. Seiner Ansicht nach ist es möglich, dem Erstgeborenen, seinem Bruder Esaw, das Recht zu nehmen, wenn sich herausstellt, dass er diesem erhabenen Privileg nicht gewachsen ist. Ein solcher Schritt ist unverständlich in den Augen von Jizchak, der dafür steht, alle Regeln zu befolgen, egal was passiert. Deshalb entzieht sich dieser ganze Verkauf scheinbar seiner Kenntnis.

Als Nächstes lesen wir, dass Jizchak »für seine Rechte kämpft«, wenn es um die Brunnen geht, die sein Vater Awraham gegraben hat, die aber von den Einheimischen gestohlen wurden. Er ist der treue Sohn, der das Erbe seines Vaters verteidigt und verteidigen will und alles einfordert – nach dem strengen Buchstaben des Gesetzes.

erblinie Der Wochenabschnitt endet mit dem berühmten Ereignis des »Diebstahls« der Segnungen von Jizchak, das den Höhepunkt all dessen darstellt, was oben erklärt wurde. Jizchak ist nicht bereit, von der klaren Erblinie abzuweichen, nach der der Erstgeborene ein unveräußerliches Recht hat. Jakow zeigt einmal mehr, dass die Dinge in dieser Welt nicht immer so funktionieren, wie sie es sollten. Es ist nicht immer das strenge Urteil, das zu dem wünschenswerten Ergebnis führt.

Die Lektion für unser Leben ist, dass wir durch unsere Liebe zur Perfektion und Ordnung auch eine natürliche Tendenz zu den Eigenschaften von Jizchak haben. Wir mögen es, wenn die Dinge so funktionieren, wie sie sollen, und sind frustriert, wenn sie es nicht tun. In solchen Momenten ist es das Einfachste, sich zu beschweren.

Wir können von Jakow lernen zu versuchen, etwas Besonderes daraus zu machen – vor allem aus solchen Ereignissen, die eben nicht so laufen, wie wir es uns ursprünglich vorgestellt haben.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Der Wochenabschnitt Toldot erzählt von der Geburt der Zwillinge Esaw und Jakow. Für ein »rotes Gericht« erkauft Jakow von seinem Bruder das Erstgeburtsrecht. Wegen einer Hungersnot muss Jizchak das Land verlassen. Er geht zu Awimelech, dem König von Gerar. Dort gibt er seine Frau Riwka als Schwester aus, weil er um sein Leben fürchtet. Als Jizchak im Sterben liegt, will er Esaw segnen, doch er wird von Riwka und Jakow getäuscht und segnet so Jakow.
1. Buch Mose 25,19 – 28,9

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