Tezawe

Der größte Prophet – mehr nicht

Das Judentum tut gut daran, keinen Kult um Mosche zu betreiben

von Beni Frenkel  10.02.2022 08:37 Uhr

In der Hauptrolle des Moses: Charlton Heston in dem Monumentalfilm »Die Zehn Gebote« (1956) Foto: imago images/Prod.DB

Das Judentum tut gut daran, keinen Kult um Mosche zu betreiben

von Beni Frenkel  10.02.2022 08:37 Uhr

Die größte Gestalt im Judentum war zweifelsohne Mosche. Die Tora bezeugt über ihn: »Kein Prophet trat auf wie Mosche, der mit Gott von Angesicht zu Angesicht sprach.« Es sind die letzten Sätze der Tora. Kurz vor Schluss erscheint allerdings eine seltsame Aussage: »Niemand kennt Mosches Ruhestätte, bis auf den heutigen Tag.«

Warum ist das wichtig, warum wird das vermerkt? Aufschluss gibt uns der Wochenabschnitt Tezawe. Er ist der einzige im zweiten Buch der Tora, in dem Mosche nicht vorkommt, zumindest nicht namentlich. Doch kommen immer wieder Sätze vor, in denen Gott zu Mosche redet: »Und jetzt befiehl den Kindern Israels« (27,20); »Und jetzt rede zu den Weisen« (28,1); »Und errichte einen Altar« (30,1).

aufruf Immer ist damit Mosche gemeint, und doch wird er kein einziges Mal namentlich genannt. Im vorigen Wochenabschnitt, Teruma, und im Abschnitt der kommenden Woche, Ki Tissa, ist das anders, dort wird er gleich im ersten Satz aufgerufen: »Und so sprach Gott zu Mosche.«

Ähnlich verhält es sich in der Haggada: An Pessach wird kein einziges Mal an Mosche erinnert – obwohl er die Juden aus Ägypten befreite! Die Rabbinen erklären diese prominente Nichterwähnung mit dem Verweis auf Gott – der Fokus soll allein auf Ihn gerichtet sein.

Kann man diese Erklärung auch auf unseren Wochenabschnitt übertragen? Das wird schwierig. Denn in Tezawe kommen die Gerätschaften des Heiligtums vor. Würde Mosche denn da stören? Um das zu verstehen, muss eine Frage geklärt werden, die in der Literatur fast nicht vorkommt: Warum ist in den vergangenen Jahrtausenden keine Moses-Religion entstanden? Wir finden in der Geschichte des Judentums nicht einmal eine »harmlose« Moses-Sekte. Das erstaunt.

Die Tora bezeugt über ihn, dass er der fähigste Prophet aller Zeiten war. Mosche soll sechs Amot (rund drei Meter!) gemessen haben, ohne ihn wäre das jüdische Volk nicht erlöst worden, er vernahm als erster die Tora und brachte sie vom Berg hinab.

WIDERSPRUCH Es gab Personen, die für weniger angehimmelt wurden. Warum al­so keinen Moses-Kult im Judentum? Eine erste Erklärung liefert einer der ersten Sätze unseres Wochenabschnitts. Dabei geht es um die komplizierte Herstellung der Priesterkleidung. Wieder spricht Gott direkt zu Mosche: »Und stelle die Kleider her (…)« (28,3). Im nachfolgenden Vers heißt es dann plötzlich: »(…) und stellt sie her (…)«

Einmal wird Mosche beauftragt, wenig später werden mehrere Menschen angesprochen. Was gilt denn nun? Die Rabbinen versuchen, den Widerspruch aufzulösen: Eigentlich hätte Mosche alle Kleider und Gerätschaften selbst herstellen müssen, denn er war der Gescheiteste. Bei der Herstellung geht es aber nicht immer darum, wer der Klügste ist. Praktisch Veranlagte sind da häufig im Vorteil. Mosche war in der Pflicht, sein theoretisches Wissen an die Begabten weiterzugeben.

Von einem Rabbiner habe ich einmal gehört: »Mosche konnte vieles, aber so guten Tscholent wie meine Frau hat er sicher nicht hingekriegt.« Ohne falsche Furcht darf ergänzt werden: So gute Flanken wie Beckham hat er nicht gespielt, so einen Punch wie Mike Tyson hatte er nicht, und so schnell wie Ugur Sahin und Özlem Türeci hätte er sicherlich auch keinen Impfstoff gegen Corona entwickeln können.

treue Mosche wird auch in der Tora als tragische Gestalt wiedergegeben. Er ärgert sich, dass ihm die Wüstenjuden nur so lange die Treue halten, wie es ihnen gefällt. Er bricht den Stab über sie. Seine Autorität wird immer wieder angezweifelt, sogar von seinen Neffen. Und als er stirbt, wird er einen Monat lang beweint. Nicht länger als andere Tote.

In keiner anderen Religion wird der Gesandte Gottes so realistisch betrachtet. Es ist bezeichnend, wie ihn die Midraschim charakterisieren: ein Stotterer, ein Zauderer, ein Spätberufener, ein Hirte.

Groß war die Gefahr, dass Mosche in der Erzählung zu einem Übermenschen wird. Darum die vielen kleinen Hinweise, dass es so weit nicht kommen dürfe. Der Einzug ins Land Israel wird ihm verwehrt. Die junge Generation soll ohne ihn die Zukunft beginnen. Seine Grabstätte ist unbekannt. Aus gutem Grund. Wir sehen ja in der Gegenwart, welcher Kult um die Gräber mancher Heiligen betrieben wird. Doch was hat all dies mit unserem Wochenabschnitt zu tun? Warum kommt Mosche ausgerechnet in der Aufzählung der Priesterkleidung nicht vor?

GOTTESDIENST Die Priesterkleidung steht für den Gottesdienst. Vor allem die Kleider des Hohepriesters. Er zog sie an Jom Kippur an und vermochte das Urteil Gottes zu Gunsten Israels zu lenken. Wenn er in seiner prächtigen Kleidung aus dem Heiligtum trat, lagen die Blicke aller auf ihm.

Die Erwähnung Mosches, selbst die kleinste Referenz, wäre in diesem Moment falsch. Es ging nicht um ihn, auch wenn er der größte Prophet aller Zeiten war. Es geht um uns. Mosche war wichtig beim Auszug aus Ägypten und natürlich während der Wüstenwanderung. Aber nicht danach. Oder sagen wir es so: Das jüdische Volk begegnet der Gegenwart ohne ihn.

Auch in unseren Gebeten, die ja an den Gottesdienst im Heiligtum anknüpfen, fällt kein Wort über ihn. Wer in den Gebeten vorkommt, das sind unsere Erzväter Awraham, Jizchak und Jakow. Awraham nennen wir »Awraham Awinu« – Abraham, unser Vater. Über Mosche sagen wir »Mosche Rabenu« – Mosche, unser Lehrer. Der Unterschied ist klein und sagt doch etwas über die Distanz zu ihm: Mosche ist ein Lehrer, und natürlich der größte. Aber ein Vater? Nein.

Die größte Gestalt im Judentum ist Gegenstand in der Erzählung und in der Lehre. Doch im Gottesdienst oder in Zusammenhang mit einem Wallfahrtsort taucht Mosche nicht auf. Das hat dem Judentum nicht geschadet, im Gegenteil.

Der Autor ist Journalist in Zürich und hat an Jeschiwot in Gateshead und Manchester studiert.

inhalt
Der Wochenabschnitt Tezawe berichtet davon, wie den Kindern Israels aufgetragen wird, ausschließlich reines Olivenöl für das ewige Licht, das Ner Tamid, zu verwenden. Auf Geheiß des Ewigen soll Mosche seinen Bruder Aharon und dessen Söhne Nadav, Avihu, Eleazar und Itamar zu Priestern machen. Für sie übermittelt die Parascha Bekleidungsvorschriften. In einer siebentägigen Zeremonie werden Aharon und seine Söhne in das Priesteramt eingeführt. Dazu wird Aharon angewiesen, Weihrauch auf einem Altar aus Akazienholz zu verbrennen.
2. Buch Mose 27,20 – 30,10

Berlin/Potsdam

Zentralrat der Juden erwartet Stiftung für Geiger-Kolleg im Herbst

Zum Wintersemester 2024/25 soll sie ihre Arbeit aufnehmen

 26.07.2024

Potsdam

Neuer Name für das Abraham Geiger Kolleg bekannt geworden

Die Ausbildungsstätte für liberale Rabbiner soll nach Regina Jonas benannt werden

 26.07.2024

Pinchas

Der Apfel fällt ganz weit vom Stamm

Wie es passieren konnte, dass ausgerechnet ein Enkel Mosches dem Götzendienst verfiel

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  26.07.2024

Talmudisches

Das Leben im Schloss

Was unsere Weisen über die Kraft des Gebetes lehren

von Vyacheslav Dobrovych  26.07.2024

Armeedienst

Beten oder schießen?

Neuerdings werden in Israel auch Jeschiwa-Studenten rekrutiert. Unser Autor ist orthodoxer Rabbiner und sortiert die Argumente der jahrzehntelangen Debatte

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Ethik

Auf das Leben!

Was ist die Quintessenz des Judentums? Der Schriftsteller Ernest Hemingway hatte da eine Idee

von Daniel Neumann  19.07.2024

Balak

Verfluchter Fluch

Warum der Einsatz übernatürlicher Kräfte nicht immer eine gute Idee ist

von Rabbinerin Yael Deusel  19.07.2024

Talmudisches

Chana und Eli

Über ein folgenreiches Gespräch im Heiligtum

von Rabbiner Avraham Radbil  19.07.2024