Talmudisches

Der geldgierige Traumdeuter

In der Antike versuchten Menschen, anhand von Träumen – oder Glaskugeln – die Zukunft vorherzusagen. Foto: Thinkstock

Ist das Glas halb voll oder halb leer? Für den Traumdeuter Bar Haddaja war die Sache klar: Wenn ihn einer für seine Dienstleistung gut bezahlte, dann deutete er ihm den Sachverhalt positiv (»halb voll«), wenn nicht, dann besagte seine Interpretation genau das Gegenteil.

So erging es auch den beiden Gefährten Abaje und Raba, die einst genau das Gleiche träumten. Sie baten den Bar Haddaja um die Deutung ihrer Träume, und Abaje bezahlte stets eine Gebühr dafür. Raba gab dem Traumdeuter grundsätzlich nichts. Einmal hatten beide geträumt, man verkünde ihnen den Vers: »Deine Söhne und deine Töchter werden einem anderen Volk gegeben« (5. Buch Mose 28,32).

Zu Abaje sagte Bar Haddaja: »Du wirst viele Kinder haben, aber deine Frau wird sie mit den Angehörigen ihrer Familie verheiraten; das wird dir dann so vorkommen, als ob deine Kinder zu einem anderen Volk gekommen seien.«

Vers Dem Raba aber beschied er, seine Frau werde sterben, denn mit »fremdem Volk« sei eine Stiefmutter für seine Kinder ge
meint. Beim nächsten Mal war es der Vers: »Geh, iss dein Brot mit Freuden und trink deinen Wein frohen Herzens« (Kohelet 9,7), den Bar Haddaja dem großzügigen Abaje so deutete, dass er gute Geschäfte machen und daher essen, trinken und voll Freude diese Schriftstelle lesen werde.

Dem knauserigen Raba sagte er dagegen, er werde schwere geschäftliche Verluste erleiden und deswegen seinen Appetit verlieren, seinen Kummer in Wein ertränken und Schriftverse zur Bekämpfung seiner Ängste lesen.

Ein andermal träumten beide von dem Vers: »Und alle Völker der Erde werden sehen, dass der Name des Ewigen genannt ist über dich und werden sich vor dir fürchten« (5. Buch Mose 28,10). Zu Abaje sagte Bar Haddaja, sein Name werde bekannt werden als Leiter der Akademie, und alle werden sich vor ihm fürchten.

Schatzhaus Aber zu Raba sagte er, ein Dieb werde ins königliche Schatzhaus eindringen, dafür werde man Raba verhaften, und das werde alle Leute erschüttern. Tatsächlich brach jemand am nächsten Tag dort ein, und man verhaftete Raba deswegen. So ging das eine ganze Weile weiter, und Raba erlitt viel Schaden durch die unseligen Traumdeutungen. Sogar seine Frau starb, wie Bar Haddaja vorausgesagt hatte.

Schließlich wurde es Raba zu dumm. Er gab dem Bar Haddaja nun doch Geld und erzählte ihm: Ich sah im Traum meine Wand einstürzen; und ich sah, wie das Haus des Abaje einstürzte und der Staub mich bedeckte. Ah, erklärte ihm Bar Haddaja, du wirst Güter ohne Grenzen erwerben; außerdem wird Abaje sterben, und seine Jeschiwa wird dir zufallen. Auf einmal prophezeite er dem Raba nur noch Gutes, denn er bezahlte.

Eines Tages fand Raba zufällig das Traumbuch des Bar Haddaja und las darin: »Alle Träume gehen danach, wie man sie deutet.« Da verfluchte Raba den Bar Haddaja für das Unglück, das er durch seine Geldgier verursacht hatte, und wünschte ihm, er möge zur Strafe für seine Falschheit einem gnadenlosen Herrscher in die Hände fallen.

König Diesen Fluch nahm Bar Haddaja sehr ernst. Er beschloss, ins römische Exil zu gehen. Dort träumte der Kammerdiener des Königs, eine Nadel steche ihn in den Finger. Danach sah er im Traum eine Mottenlarve auf zwei Finger fallen. Jedes Mal bat er Bar Haddaja um eine Deutung. Aber weil er ihm den geforderten Lohn nicht zahlen wollte, deutete ihm Bar Haddaja auch die Träume nicht.

Schließlich träumte der Mann, eine Motte sei auf seine Hand gefallen, und Bar Haddaja sagte, nun seien die königlichen Seidengewänder schon von Motten zerfressen worden. So war es, und man wollte den Kammerdiener verhaften und hinrichten. Der aber sagte, man solle sich an den halten, der Bescheid gewusst und nichts gesagt habe. Der habe den Schaden mitzuverantworten, denn er hätte ihn verhindern können, habe aber aus Geldgier nicht geholfen. So wurde Bar Haddaja hingerichtet.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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