Schoftim

Der die Verlorenen sucht

Gestrandet – aber von einer wahren Führungspersönlichkeit wird niemand aufgegeben.

Unser Wochenabschnitt ist sehr aktuell – es geht um Politik. In sechs Wochen wählt Deutschland einen neuen Kanzler oder eine neue Kanzlerin und eine neue Regierung. Darüber dachte ich nach, als ich einen Vers im Toraabschnitt dieser Woche über die Ernennung eines Königs für das jüdische Volk las.

Wie der erste Regierungschef Israels gewählt und gekrönt wurde, davon lesen wir im Tanach im ersten Buch Schmuel. Es ist eine scheinbar seltsame und irrelevante Geschichte: Es gab einen Mann aus dem Stamm Benjamin, dessen Name war Kisch. Er hatte einen Sohn namens Scha’ul. Eines Tages verirrten sich die Esel von Kisch. Scha’ul nahm einen der Bauernjungen und machte sich auf die Suche nach ihnen.

Drei Tage lang suchten sie nach den Eseln, aber sie fanden sie nicht. Also sagte Scha’ul zu dem Bauernjungen: »Wir müssen zurückgehen, bevor mein Vater aufhört, sich um die Esel zu sorgen, und anfängt, sich um uns zu sorgen.«

Warum musste G’tt eine so seltsame Geschichte erfinden, in der die Esel von Scha’uls Vater verloren gehen, damit sein Sohn drei Tage lang nach ihnen suchen musste und so den Propheten Schmuel traf? Die Geschichte hätte viel einfacher sein können, so wie es war, als G’tt Schmuel anwies, den zweiten König der jüdischen Nation, David, zu ernennen.

ESEL In der Tat schreibt der Talmud die gesamte Führerschaft, die Scha’ul übertragen wurde, diesem Satz zu: Scha’ul sagt: »Vielleicht hört mein Vater auf, sich um die Esel zu sorgen, und kümmert sich um uns!« Er verglich seinen Diener mit sich selbst.

Hier gibt es noch eine tiefere Botschaft. Die Esel von Scha’uls Vater sind verloren gegangen. Scha’ul geht mit dem Bauernjungen auf die Suche nach ihnen. Er schickt nicht jemand anderen – er selbst ist tagelang unterwegs, um die verlorenen Tiere zu suchen.

Auch das muss die Qualität eines Anführers sein. Es wird immer Menschen geben, die verloren sind, körperlich, geistig oder spirituell. Wenn Scha’ul nach dem verlorenen Esel sucht, wissen wir, dass eine solche Person auch nicht bei einem einzigen Juden oder bei anderen Menschen Kompromisse machen wird! Selbst Menschen, die vielleicht mit ihrem Leben kämpfen, Menschen, die mit ihrer Identität ringen, oder sogar, wenn sie für ihr Volk völlig verloren scheinen − Scha’ul wird sich auf die Suche nach ihnen machen.

Suchen wir nach denen in unserer Gemeinschaft, die unsere Wärme und unsere Unterstützung brauchen! Vielleicht jemand, der früher einmal da war, aber nicht mehr da ist. Wie oft halten wir inne und fragen uns: Was ist aus ihnen geworden?

AUFGABE Manchmal wird man zu einer Aufgabe gerufen, die so unbedeutend und unter der eigenen Würde erscheint wie die Suche nach einem verlorenen Esel. Man sagt sich vielleicht: Ich?! Habe ich nichts Besseres zu tun, als einen verirrten Esel zu suchen? Oder habe ich nichts anderes mit meiner Zeit zu tun, als diesem Menschen mit Liebe die Hand zu reichen? Drei Tage lang verschlungene Wege gehen, um eine verlorene Seele zu suchen?

Aber manchmal ist es genau diese Arbeit, durch die Sie Ihre wahre innere Kraft, Stärke und Königswürde entdecken. Es sind diese Bemühungen, die es Ihnen ermöglichen, sich neu zu erfinden, Ihr ultimatives Potenzial zu erreichen und Ihre ultimative Mission zu erfüllen.

DIEBSTAHL Vor zwei Jahren, im Juli 2019, verstarb Rabbi Dovid Trenk. Er war ein außergewöhnlicher Pädagoge, der fast 50 Jahre lang Tausende Kinder und Jugendliche in New York unterrichtet hatte. An seiner Schule, einer religiösen Highschool, gab es einen 16-jährigen Jungen, der sehr aggressiv und emotional und geistig verwirrt war. Eines Freitagabends brach er in Rabbi Trenks Büro ein, stahl die Autoschlüssel und fuhr mit dem Wagen des Rabbis davon, obwohl er nicht einmal einen Führerschein hatte. Der 16-Jährige fuhr zu einem großen Kino mit mehreren Sälen, das zwei Kilometer von der Schule entfernt lag. Er kaufte eine Eintrittskarte und setzte sich in eine der Filmvorführungen.

In der Zwischenzeit erzählte jemand Rabbi Trenk, dass dieser Junge sein Auto gestohlen hatte und ins Kino gegangen war. Was tut der Rabbi?

Er geht die zwei Kilometer zum Kino zu Fuß, tritt an den Ticketschalter und sagt: »Hören Sie, ich bin Rabbiner, und es ist Schabbat. Ich gehe heute Abend nicht ins Kino, aber ein Schüler von mir ist hier. Darf ich kurz hineingehen und ihm etwas Wichtiges sagen, und dann komme ich gleich wieder heraus?« Die Frau hinter dem Tresen sagt: »Ja, klar.«

Der Rabbi mit dem langen Bart und dem großen schwarzen Hut geht von Kino zu Kino auf der Suche nach seinem Schüler. Die Säle sind dunkel, es ist nicht leicht, jemanden zu finden, aber er hört nicht auf zu suchen. Endlich entdeckt er in einem der Kinosäle seinen Schüler. Rabbi Trenk betritt den Saal und setzt sich direkt neben den 16-Jährigen.

Der Junge wird später erzählen: »Ich sah mir den Film an, und plötzlich bemerke ich, wie sich jemand neben mich setzt. Ich schaue hinüber – und werde fast ohnmächtig. Es ist mein Lehrer! Mein Rabbi! Rabbi David Trenk. Ich konnte es nicht fassen. Ich sagte: ›Rabbi! Was machst du hier?‹ Er antwortete: ›Ich bin gekommen, um dir etwas zu sagen.‹

›Wie kommst du hierher?‹, fragte ich ihn. ›Ich bin gelaufen.‹

›Rabbi, das ist ein langer Weg! Du bist den ganzen Weg gelaufen, nur um mir etwas zu sagen?‹ ›Ja.‹

›Was willst du mir sagen?‹ ›Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass das Popcorn, das sie in diesem Kino verkaufen, nicht koscher ist. Bitte kaufe hier kein Popcorn.‹
›Das ist es, was du mir sagen wolltest? Das ist alles?‹ ›Ja, das ist es. Hab’ einen schönen Schabbes, mein Junge, amüsier’ dich, und wir sehen uns, wenn du zurück bist. Ich liebe dich!‹

Rabbi Trenk stand auf, um zu gehen. Ich ergriff seinen Ärmel und sagte: ›Rabbi, geh nicht, ich komme mit.‹

Wir gingen zurück zur Jeschiwa, und er sagte kein Wort über das gestohlene Auto und darüber, dass ich am Schabbat gefahren und ins Kino gegangen bin. Er plauderte einfach, erzählte Geschichten, Witze, sang Lieder, und wir hatten eine lustige Zeit.«

Der Junge endete in seiner Erzählung: »Als ich zurück in die Jeschiwa kam, sagte ich: ›Rabbi Trenk! Ich schwöre, ich werde nie wieder den Schabbes entweihen, und ich werde nie wieder ein Auto stehlen.‹« Und er tat es nie wieder. Heute ist er ein wunderbarer junger Mann, eine jüdische Führungspersönlichkeit, ein Aktivist und ein Jude, der die Tora befolgt. Denn der jüdische Anführer ist derjenige, der die Verlorenen sucht, auch wenn es scheint, als seien sie gleichgültige, sture Esel.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

inhalt
Im Wochenabschnitt Schoftim geht es um Rechtsprechung und Politik. Es werden Gesetze über die Verwaltung der Gemeinschaft mitgeteilt sowie Verordnungen für Richter, Könige, Priester und Propheten. Die Tora betont, dass die Kinder Israels in jeder Angelegenheit nach Gerechtigkeit streben sollen. Bevor mit Verordnungen zum Verhalten in Kriegs- und Friedenszeiten geschlossen wird, weist die Tora darauf hin, dass ein Israelit, der einen anderen ohne Absicht totgeschlagen hat, sich in einer von drei Zufluchtsstädten vor Blutrache retten kann.
5. Buch Mose 16,18 – 21,9

Hatikwa

Vom Mut, weiter zu hoffen

Das Neujahrsfest symbolisiert den nie endenden Glauben des jüdischen Volkes an eine bessere Zukunft

von Rabbiner Noam Hertig  06.10.2024

Zom Gedalja

Gedenken in Phasen

Direkt nach Rosch Haschana sollen Juden fasten. Was hat es mit diesem Trauertag auf sich?

von Sophie Bigot-Goldblum  06.10.2024

Ha'Asinu

Die Kraft der Musik

Der Tanach enthält bedeutende Lieder – aber auch beim Beten, Lesen und Toralernen wird gesungen

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  02.10.2024

Mizwot

613 Kerne, 613 Chancen

Mosche Sofer schrieb im 18. Jahrhundert, dass der Granatapfel genauso viele Kerne enthält, wie die Tora Gebote und Verbote zählt. Hier stellen wir acht vor, die Sie im neuen Jahr ausprobieren können

von Rabbiner Dovid Gernetz  02.10.2024

Rosch Haschana

Es beeinflusst unser Schicksal, wie wir den Neujahrstag begehen

Ein Gastbeitrag von Rabbiner Elischa Portnoy

von Rabbiner Elischa Portnoy  02.10.2024

Israel

David Josef zum neuen sephardischen Oberrabbiner Israels gewählt

Bei der Wahl des aschkenasischen Konterparts kam es hingegen zu einem Patt

 30.09.2024

Familie

»Mein Mann und ich hatten das Gefühl zu versagen«

Seit Jahrtausenden ist es ein jüdisches Ideal, viele Kinder zu bekommen. Doch schon die Tora berichtet, wie kompliziert der Weg dahin sein kann. Hier erzählen zwei Frauen ihre Geschichte

von Mascha Malburg  29.09.2024

Nizawim-Wajelech

Einer für alle

Die Tora lehrt, dass jeder Einzelne Verantwortung für das gesamte Volk trägt

von Yaakov Nektalov  26.09.2024

Antisemitismus-Forschung

Wie Europa im Mittelalter antisemitisch wurde

Donald Trump hat ausgerechnet bei einem Event gegen Antisemitismus angedeutet, die Juden seien schuld, wenn er die Wahl verliere. Was hat Antisemitismus von heute mit dem Mittelalter zu tun?

von Christiane Laudage  24.09.2024