Talmudisches

Der abtrünnige Rabbi

Rabbi Elischa ben Awuja verließ später das Judentum. Foto: Getty Images / iStock

Welche Religion würde in ihren Grundsatzschriften Menschen präsentieren, die das religiöse System ablehnen oder deren Meinungen zitieren? Der Talmud tut dies! Er hat die Worte eines »Häretikers« und dessen Biografie für die Nachwelt überliefert und ihn nicht einfach durch Nichterwähnung aus der Geschichte getilgt.

Wie kam es dazu, dass Rabbi Elischa seine Verbindung zum Judentum verlor?

Es handelt sich um Rabbi Elischa ben Awuja, der später »Acher«, der Andere, genannt wurde. Er ist ein Rabbiner des Talmuds, aber er verließ später das Judentum.

Bemerkenswerterweise beschäftigt sich der Talmud mit Elischa ben Awuja nicht nur in einem negativen Kontext. So ist eine seiner Lehren in den Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter (4,25), überliefert: »Elischa ben Awuja sagte: Wem gleicht der, der in der Jugend lernt? Der Tinte auf frisches Papier geschrieben. Wem gleicht der, der erst im Alter lernt? Der Tinte aufs radierte Papier geschrieben.«

Es ist nicht anzunehmen, dass hier, im Kreise der großen Gelehrten, der Ausspruch eines »No Name« tradiert worden wäre.

Prostituierte Schon die Geschichte seines Beinamens »Acher«, der Andere, ist in gewisser Weise besonders, denn der Talmud macht hier Gebrauch von einem Namen, der ihm nicht von einem anderen Weisen gegeben wurde, sondern von einer Prostituierten.

Im Traktat Chagiga 15a wird erzählt, dass sich Elischa ben Awuja dachte, wenn er in dieser Welt schon nichts mehr erreichen könne, dann dürfe er sie auch genießen – und so ging er zu einer Prostituierten. Diese war anscheinend über ihren bekannten Gast verwundert und fragte ihn: »Bist du nicht Elischa ben Awuja?« Da riss er, statt zu antworten, am Schabbat eine Rübe aus der Erde und gab sie ihr. Daraufhin sagte sie: »Er ist ein anderer (acher).«

Der Talmud nennt noch einen weiteren Grund dafür, dass sich Acher vom Judentum entfernte.

Doch wie kam es dazu, dass Rabbi Elischa seine Verbindung zum Judentum verlor? Dazu erzählt der Talmud gleich mehrere Geschichten. Eine ist eher mystischer Natur, und eine andere Geschichte ist in den Jahrhunderten zwischen den Weisen des Talmuds und uns Heutigen immer wieder geschehen. Zunächst soll die mystische Geschichte erzählt werden.

Pardes Elischa ben Awuja gehörte zu den vier Weisen, die einen Blick in den Pardes, das Paradies, werfen durften, so berichtet es der Talmud (Chagiga 14b): »Vier traten ein in den Pardes. Das waren Ben Asaj, ben Soma, Acher (also Elischa ben Awuja) und Rabbi Akiwa.« Ben Asai überlebte dieses mystische Erlebnis nicht, Ben Soma wurde verrückt, und Acher wurde zum Häretiker. Nur Rabbi Akiwa kam unversehrt zurück.

Aber der Talmud nennt noch einen weiteren Grund dafür, dass sich Acher vom Judentum entfernte: Er sah, dass auch denjenigen Schreckliches passierte, die sich vollkommen der Tora verschrieben und ein gutes Leben geführt hatten. So wurde er Zeuge davon, wie die Römer »Chuzpit, den Übersetzer« hinrichteten und auf die Straße warfen. Der Talmud berichtet: »Einige sagen, er sah die Zunge von Chuzpit, dem Übersetzer, wie sie von etwas anderem (gemeint ist ein Schwein) durch die Straße gezogen wurde. Ein Mund, aus dem Perlen hervorkamen, soll nun Schmutz auflecken? Da wurde er zum Häretiker« (Kidduschin 39b).

Schabbatgrenze Aber so ganz ließ ihn das Judentum doch nicht los. Verschiedene Male kam Acher mit Rabbi Me›ir zusammen und diskutierte mit ihm. Dieser hatte ihn offenbar nicht aufgegeben.

Sogar dann nicht, als Elischa ben Awuja am Schabbat auf einem Pferd ritt: »Einmal geschah etwas mit Acher, der am Schabbat auf einem Pferd ritt, und Rabbi Me‹ir ging hinter ihm, um Tora zu lernen. Da sprach Acher zu Me›ir: Kehr um, ich denke, wir haben die Schabbatgrenze erreicht. Da sprach Rabbi Me‹ir: Kehr auch du um! Und Acher antwortete: Ich habe eine Stimme aus dem Himmel gehört, die sprach, kehrt um, kehrt um, ihr Abtrünnigen – außer Acher« (Chagiga 15a).

Elischa ben Awuja sah für sich keinen Weg mehr zurück. Und trotzdem sind sein Name und seine Geschichte – die sich so oft wiederholt haben – Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Vielleicht sollen sie lehren, dass die Frage nach der Religion angesichts realer Verzweiflung keine neue ist.

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