Beschalach

Den ersten Schritt gehen

In einer nächtlichen Aktion ziehen unsere Vorfahren aus Ägypten. An diesem Schabbat kommen wir zum spannenden Höhepunkt der Geschichte des Auszugs. Nach 400 Jahren geht die Gefangenschaft der Israeliten zu Ende. Die früheren Sklaven verlassen die Stätte ihrer Unterdrückung.

Kaum waren sie außer Sichtweite, bereute der Pharao, dass er sie leichtsinnig hatte ziehen lassen. Er scheint die »eser makot«, die zehn Plagen, vergessen zu haben. Vielleicht deshalb, weil unter den Plagen vornehmlich sein Volk gelitten hatte und nicht er selbst.

ARMEE Er ordnet die Mobilmachung an. Seine Armee erhält den Marschbefehl. Die Kriegswagen wurden in Bewegung gesetzt. Die flüchtenden Sklaven sollen nicht in die Freiheit entkommen. Der Pharao meint, wie die Schrift uns mitteilt, dass die Israeliten »verirrt sind im Land, umschlossen hat sie die Wüste« (2. Buch Mose 14,3).

Der Pharao war davon überzeugt, dass seine ehemaligen Sklaven die Orientierung in der Wüste rasch verlieren würden und man sie dann leicht einfangen und zurückbringen könne. Grund dafür, warum der Herrscher zu dieser Überzeugung gelangen konnte, war die Nachricht, dass Mosche die Israeliten nicht zur Küstenstraße hinführte, sondern dass »G’tt das Volk durch die Wüste in Richtung Schilfmeer abdrehen ließ« (13,18).

Die Küstenstraße, die alte Heerstraße am Mittelmeer entlang, wäre die kürzeste und einfachste Strecke ins Land der Verheißung gewesen.

unannehmlichkeiten Mosche befürchtete, das unerfahrene und mutlose Volk würde nach den ersten Unannehmlichkeiten rasch nach Ägypten zurückkehren wollen. Doch diese Sorge verflog nach den Ereignissen am Schilfmeer: Als die Israeliten ihre heran­nahenden Verfolger entdeckt hatten, brach Panik und Hysterie im Lager aus. Die schwersten Vorwürfe musste Mosche einstecken. Das Volk schrie: »Gab es denn in Ägypten keine Gräber mehr, dass du uns von dort weggeholt hast, damit wir hier in der Wüste elend sterben? Was hast du uns angetan?« (14,11).

Mosche verspricht den Israeliten, dass G’tt sie retten wird, und bittet Ihn um Hilfe. Daraufhin gibt G’tt eine überraschende, ja merkwürdige Antwort: »Warum schreist du zu Mir? Sag den Kindern Israels, sie sollen sich auf den Weg machen!« Erst dann fügt G’tt hinzu: »Nun erhebe deinen Stab über das Meer und teile es!«

Warum musste der Allmächtige, wenn er bei der Teilung des Meeres helfen wollte, Mosche erst anherrschen, dass er sich »beeilen« soll?

MIDRASCH Die merkwürdige Diskrepanz zwischen der ersten und der zweiten Aussage G’ttes, der die Kinder Israels auffordert, vorwärts zu ziehen, und erst dann offenbart, dass Er das Meer teilen würde, hat zu einem berühmten Midrasch geführt: »Als Israel am Meer stand, sagte ein Stamm: ›Ich will nicht als Erster ins Meer hinabsteigen‹, und ein anderer Stamm sagte auch: ›Ich will nicht als Erster ins Meer hinabsteigen.‹ Inmitten dieses Streits ergriff ein Einzelner, Nachschon ben Aminadaw, der Anführer des Stammes Jehuda, die Initiative und stieg als Erster ins Meer hinab und inspirierte den Rest seines Stammes, ihm zu folgen. (…) Deshalb verdiente es Jehuda, der Stamm der Könige von Israel zu werden, wie es heißt: ›Jehuda heiligte seinen Namen; dadurch verdiente er es, in Israel zu herrschen‹« (Psalm 114,2).

Dem Midrasch zufolge beschloss G’tt erst dann, das Meer zu teilen, als Nachschon den Mut hatte, vorwärts zu gehen. Aber es erscheint in der Tat seltsam, dass sein Verhalten Nachschon so viel Lob und Ruhm eingebracht hat. Ins Meer zu laufen, war keineswegs eine rationale Handlung, und es war auch kein Plan, der in irgendeinem logischen Sinn die Befreiung der Israeliten hätte bewirken können. Im Gegenteil, man könnte es für eine tollkühne und verzweifelte Idee halten.

Die jüdische Tradition aber lobt Nachschon für sein Handeln und spiegelt dadurch die tiefe Überzeugung wider, dass selbst in scheinbar unmöglichen Situationen wundersame Lösungen gefunden werden können – aber nur, wenn wir den ersten Schritt machen. So versteht Raschi (1040–1105) auch die Antwort G’ttes an Mosche: »Sag den Kindern Israels, sie sollen weiterziehen!« Raschi meint: »Wenn die Israeliten nur anfangen, vorwärts zu gehen, dann wird das Meer ihnen schon nicht im Wege stehen.«

verfolger Der Midrasch behauptet, dass das von den Schrecken der Verfolger verwirrte Volk sich in vier unterschiedlich denkende Gruppen aufteilen ließ: Die erste wollte sich aus Verzweiflung ins Meer stürzen, damit sie nie wieder in Gefangenschaft gerate; die zweite war bereit, gehorsam nach Ägypten zurückzukehren; die dritte wollte den Kampf mit den Verfolgern aufnehmen; und die letzte wollte G’tt laut um Hilfe rufen, vielleicht würde Er sich ihnen erbarmen.

Dann geschah das Unvorhergesehene, das Wunder: Die Fluten des Schilfmeers teilten sich, und die Israeliten konnten trockenen Fußes das andere Ufer erreichen. Ihre Verfolger jedoch versanken hinter ihnen in den heranströmenden Wassermassen.

Als den Israeliten bewusst wurde, dass sie gerettet waren, sangen sie, zuerst die Frauen, dem Ewigen ein Dankeslied aus vollem Herzen (15,2). Dieses Loblied nimmt eine herausragende Stelle in der Tora ein. Aufgrund dieses Liedes nennt man in jüdischen Kreisen diesen Schabbat »Schabbat Schira« – »Schabbat des Danklieds«.

glauben Zum ersten Mal wird hier die G’ttesverehrung als Liturgie, in Form eines aus einem gemeinsamen Antrieb gesungenen Liedes, vom Volk erfahren. Mosches Wirkung wird vom Volk wahrgenommen und vertieft sich zum Glauben: »Und das Volk fürchtete den Ewigen, und sie glaubten Ihm und Seinem Diener Mosche« (14,31).

Dieses Erlebnis, die Errettung der Israeliten auf dem Weg ihrer Volkswerdung, strahlt und wirkt von der Urgeschichte der Israeliten an bis in die Gegenwart: Diese Vergangenheit ständig »bewältigen« zu wollen, bildet einen Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Im jüdischen Festkalender gibt es kein Ereignis, an dem man in der Liturgie diese Worte nicht wiederholen würde: »Secher lijetziat Mitzrajim« – »Gedenke der Tage deines Auszugs aus Ägypten!«

Selbst die jüdische Volkskultur huldigt dem Inhalt dieses Schabbats durch einen in Europa weit verbreiteten Brauch: Es ist an diesem Schabbat üblich, da meistens die geschlossene Schnee- oder Eisdecke die Tiere, die Vögel des Feldes bei der Nahrungssuche hindert, ihnen Futter vorzusetzen.

Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.

inhalt
Der Wochenabschnitt Beschalach erzählt, wie die Kinder Israels auf der Flucht vor dem Pharao und seinen Truppen trockenen Fußes das Schilfmeer durchquerten. Es öffnete sich vor ihnen und schloss sich hinter ihnen wieder, sodass die Männer des Pharaos in den Fluten ertranken. Danach beginnt der eigentliche Weg Israels durch die Wüste. Es wird berichtet, wie der Ewige die Menschen mit Manna und Wachteln versorgt und sie auffordert, Speise für den Schabbat beiseitezulegen. Dennoch fehlt es an Wasser, und die Kinder Israels beschweren sich bei Mosche. Der lässt daraufhin Wasser aus einem Felsen hervorquellen.
2. Buch Mose 13,17 – 17,16

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