Talmud

Dem Tod so nah

Was die Weisen der Antike über den Zustand zwischen Diesseits und Jenseits lehren

von Vyacheslav Dobrovych  29.03.2024 09:03 Uhr

Der Gedanke liegt nahe, dass Gʼtt die guten Tage, an denen der Glaube stark war, belohnen und die schlechten Tage bestrafen wird. Foto: Getty Images/iStockphoto

Was die Weisen der Antike über den Zustand zwischen Diesseits und Jenseits lehren

von Vyacheslav Dobrovych  29.03.2024 09:03 Uhr

Laut der International Association for Near-Death Studies sollen zwischen vier und 15 Prozent der Bevölkerung in den USA eine Nahtoderfahrung gehabt haben. Auch aus Deutschland kommen häufig entsprechende Berichte. Menschen, die aufgrund verschiedenster Umstände dem Tod nahe waren, erzählen unabhängig voneinander von Erfahrungen, die sich sehr ähneln.

Einige dieser Erfahrungen sind: das Hinabschauen auf den eigenen Körper von oben, ein helles Licht, welches das Bewusstsein zu sich zieht, ein Lebensrückblick, einige sehen auch bereits verstorbene Verwandte. Einige andere scheinen auch Menschen zu sehen, die noch am Leben sind.

So auch der Israeli und ehemalige Mitarbeiter der Zeitung »Yediot Ahronot«, Schalom Rappaport. In einem Bericht des israelischen Fernsehsenders Arutz 10 berichtet Rappaport, dass er während eines Herzinfarkts den Rabbiner Schimon Ben Zion aus Hebron sah. Die beiden hatten zusammen im Libanon gekämpft. Rappaport rettete Ben Zion damals aus einem brennenden Panzer. Nach dem Kampfeinsatz brach der Kontakt der beiden ab. Während seiner Nahtoderfahrung sah Rappaport den Rabbiner wieder, allerdings nicht mehr als jungen Mann (so wie er ihn in Erinnerung hatte), sondern als älteren Mann und in seiner rabbinischen Kleidung, er verteidigte Rappaport als Fürsprecher im Jenseits. Als Rappaport genesen war, suchte er den Rabbiner auf und war voller Verwunderung, als er feststellte, dass Ben Zion am Leben ist und sich sein Aussehen mit dem in der Nahtoderfahrung deckte.

Diese Erfahrung beeinflusste Rappaport, der nach eigenen Angaben seit Jahrzehnten keine Synagoge mehr betreten hatte, sich mit dem Thema Religion und Spiritualität zu befassen.

Man fragte Josef, was er auf der »anderen Seite« gesehen hatte

Auch der Talmud erzählt von einer Nahtoderfahrung. Josef, der Sohn des Rabbi Jehoschua, wurde derart krank, dass er nicht mehr bei Bewusstsein war. Als Josef wieder gesund wurde, fragte ihn sein Vater, was er auf der »anderen Seite« gesehen hatte. Der Junge antwortete: »Eine verkehrte Welt sah ich. Die Unteren waren oben, und die Oberen waren unten.« Der Vater antwortete: »Du hast die wahre Welt gesehen!« Dann fragte er den Sohn: »Und wie hast du uns gesehen?« Der Junge antwortete: »So wichtig wie hier – so auch dort!«

Was bedeuten die Worte des Jungen? Die Kommentatoren geben verschiedene Antworten. Aus dem Kontext sieht es aus, als würde der Junge über die Wichtigkeit von Menschen reden. So kommentiert Raschi (1040–1105): »Es gibt Menschen, die im Diesseits sehr reich und mächtig sind, aber im Jenseits als unwichtig gelten. Es gibt auch Menschen, die im Diesseits als unwichtig gelten, aber die wichtigen Menschen im Jenseits sind. Bei den Toragelehrten wird die Wichtigkeit im Jenseits auch im Diesseits widergespiegelt.«

Auch im Diesseits befinden sich die Menschen irgendwie im Jenseits

Aus dieser Lesung des Talmuds ergibt sich, dass nicht nur die Toten im Jenseits sind, sondern sich die Menschen im Diesseits zeitgleich auch auf irgendeine Art und Weise im Jenseits befinden. Dies deckt sich mit der Erfahrung von Schalom Rappaport.

Die chassidischen Rabbiner geben eine andere Interpretation dieser talmudischen Passage: Es geht an dieser Stelle nicht um Menschen, sondern um Tage. Es gibt Tage, die sind gut, man ist inspiriert, gute Taten zu tun und Gʼtt nahezukommen. Man verbringt die Tage auf die bestmögliche Art und Weise. Dann gibt es Tage, die sind dunkel. Man scheint den Glauben verloren zu haben. König David beschrieb sein Gefühl an solchen Tagen mit den Worten: »Mein Gʼtt, mein Gʼtt, wieso hast du mich verlassen?« (Psalm 22).

Statt Inspiration und guten Wünschen erlebt man Stress und Hoffnungslosigkeit. Der Gedanke liegt nahe, dass Gʼtt die guten Tage, an denen der Glaube stark war, belohnen und die schlechten Tage bestrafen wird. In Wahrheit aber sind die kleinsten guten Taten und selbst auch nur gute Gedanken an den dunklen Tagen viel mehr wert als ein Meer von guten Taten an den Tagen des Lichts.

Chol Ha-Moed

Grund allen Seins

Die 13 Middot, die »Gʼttlichen Eigenschaften«, enthalten universelle Verhaltensnormen für alle Menschen

von Rabbiner Joel Berger  26.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Korban Pessach

Schon dieses Jahr in Jerusalem?

Immer wieder versuchen Gruppen, das Pessachopfer auf dem Tempelberg darzubringen

von Rabbiner Dovid Gernetz  22.04.2024

Pessach

Kämpferinnen für die Freiheit

Welche Rolle spielten die Frauen beim Auszug aus Ägypten? Eine entscheidende, meint Raschi

von Hadassah Wendl  22.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024