Dekalog

Das zehnte Gebot

»Du sollst nicht begehren«: Warum es wichtig ist, schädliche Gedanken zu kontrollieren

von Daniel Neumann  20.06.2019 09:59 Uhr

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»Du sollst nicht begehren«: Warum es wichtig ist, schädliche Gedanken zu kontrollieren

von Daniel Neumann  20.06.2019 09:59 Uhr

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren das Weib deines Nächsten, seinen Knecht und seine Magd und seinen Ochsen und seinen Esel und alles, was deines Nächsten ist» (2. Buch Mose 20,14).

Mit diesen Worten schließt der Dekalog, das Herzstück der Tora. Und obwohl die Formulierung eigentlich nichts an Deutlichkeit vermissen lässt, wirft die letzte der zehn g’ttlichen Verlautbarungen eine ganze Reihe von Fragen auf.

Wie übertritt man das Verbot genau? Schon durch die Gedanken oder erst durch die Tat? Und falls es wirklich auf Gedanken ankäme, schlösse sich gleich die Frage an, ob man diese tatsächlich beeinflussen und kontrollieren kann. Außerdem gilt das Judentum doch als Religion der Tat!

Und weshalb benennt das Gebot das Haus, die Frau, das Vieh des Nächsten ganz konkret, bevor es dann mit einer pauschalen und umfassenden Formulierung endet?

Klärung Fragen über Fragen. Machen wir uns also daran, ein wenig Licht ins biblische Dunkel zu bringen, und klären zunächst, wie man das Gebot eigentlich übertritt. Was also meint die Vorschrift, wenn sie vom «Begehren» spricht?

Einfach ausgedrückt bedeutet es, dass man etwas unbedingt haben möchte. Es geht also nicht lediglich um die Bewunderung oder um den anerkennenden Respekt für die Errungenschaften, den Besitz oder den Ehepartner des Nächsten, sondern um ein brennendes Verlangen danach. Elemente des Begehrens sind also gesteigerter Neid, drängende Begierde und Habgier.

Einige unserer Weisen gehen dabei davon aus, dass es konkreter Handlungen bedarf, um das Verbot in Gänze zu übertreten. Zwar sind auch sie der Meinung, dass schon die verwerflichen Gedanken als solche zu verurteilen seien. Isoliert genügten diese allerdings nicht, um das zehnte Gebot zu verletzen. Vielmehr bedürfe es konkreter negativer Auswirkungen in der Praxis.

Erlaubt ist, die Frau des Nachbarn zu bewundern. Verboten ist, mit ihr schlafen zu wollen.

Diese Sichtweise korrespondiert zwar mit dem allgemeinen Verständnis des Judentums und all seinen handlungsbasierten Ge- und Verboten. Gleichzeitig spricht aber einiges dafür, dass wir es hier mit einer Ausnahme von der Regel zu tun haben. Denn bereits der Wortlaut der Vorschrift deutet nirgendwo an, dass es hier um mehr geht als um unsere Gedanken. Ganz im Gegenteil. Es geht ausschließlich um das Begehren als solches.

Auch hier ist allerdings entscheidend, wohin dieses Begehren nach Ansicht unserer Weisen letztlich führt, wenn es nicht rechtzeitig unter Kontrolle gebracht wird. Schon der Prophet Micha sprach nämlich: «Erst begehren sie Felder, und anschließend stehlen sie sie» (Micha 2,2). Und der berühmte Arzt und Philosoph Moses Maimonides erklärte vor gut 800 Jahren, dass das Verlangen zum Begehren führe und das Begehren zum Stehlen.

Weinberg Ein biblisches Beispiel für solch eine Verkettung findet sich im Buch der Könige. Dort empfindet König Ahab Verlangen nach dem Weinberg von Nabot. Da dieser sein Weingut allerdings nicht verkaufen möchte, heckt Ahabs Frau eine Intrige aus. In deren Folge wird der unschuldige Nabot wegen Verrats hingerichtet, während sich der König des nunmehr herrenlosen Weinbergs bemächtigt. Sein Begehren fordert also den Tod eines unschuldigen Menschen.

In dieser Auslegungstradition schrieb schließlich Rabbiner Samson Raphael Hirsch in seinem Torakommentar: «Wer nicht zum Verbrechen kommen will, muss die Begierde im Keime ersticken.» Entscheidend ist also, dass man schon seine Gedanken, seine Begierden, sein Begehren unter Kontrolle bringt und so das Risiko eindämmt, dass sie zum Schaden des Nächsten verwirklicht werden.

Praxis Doch ist das überhaupt möglich? Können wir unsere Gedanken wirklich kontrollieren? Manche Rabbiner glauben das nicht. Denn unsere Sehnsüchte und Begierden seien zu kraftvoll, um dauerhaft beherrscht werden zu können. Das zehnte Gebot sei deshalb überhaupt nicht dazu da, um in der Praxis tatsächlich eingehalten zu werden.

Der Sinn dieser Vorschrift liege vielmehr darin, ein für alle Mal zu bezeugen, dass kein Mensch alle Ge- und Verbote der Tora einhalten kann.
Sprich: Da es per se unmöglich sei, seine Gedanken vollständig zu kontrollieren, sei es folglich auch unmöglich, diesem Gesetz zu entsprechen. Entscheidend sei der gute Vorsatz und nicht das Ergebnis. Ein tröstlicher Ansatz, der sicherlich gut gemeint ist, uns Menschen aber zu wenig zutraut.

Es kann sehr positive Wirkungen haben, sich an anderen Menschen ein Beispiel zu nehmen.

Denn wenn wir genau hinschauen, ist es durchaus möglich, auch das letzte der Zehn Gebote einzuhalten. Und das hat mehrere Gründe: Verboten sind zunächst ganz spezifische Güter. Das Haus, die Frau, der Knecht des Nächsten und alles, was ihm gehört. Entscheidend ist also, dass sich das Begehren speziell auf das erstrecken muss, was dem Nächsten gehört!

Es ist also durchaus erlaubt, das Auto seines Nachbarn zu bewundern und sich ein ebensolches Modell zu wünschen. Und genauso verhält es sich mit dessen Haus oder dessen Frau. Verboten ist allerdings, genau dieses Auto haben zu wollen. Dieses Haus besitzen zu wollen. Mit dieser Frau schlafen zu wollen. Es geht also nicht darum, wirtschaftliches Konkurrenzdenken zu unterdrücken oder das Streben nach persönlichem Wohlstand im Allgemeinen zu unterbinden.

Ganz im Gegenteil! Es kann sogar sehr positive Wirkungen haben, sich an anderen Menschen ein Beispiel zu nehmen. Sich durch deren Errungenschaften inspirieren und motivieren zu lassen. Allerdings sollte man sich davor hüten, exakt das haben zu wollen, was einem anderen gehört.

Triebe Außerdem haben wir Menschen zwar Wünsche und Sehnsüchte sowie ein ganzes Arsenal negativer Triebe, doch gleichzeitig gehört es zu den absoluten Grundfesten des Judentums, dass wir mit einem freien Willen ausgestattet sind, der uns befähigt, uns für das Gute oder das Böse, das Richtige oder das Falsche zu entscheiden. Und ebendiese Willens- und Entscheidungsfreiheit ist es auch, die es uns ermöglicht, unsere negativen Gedanken zu beeinflussen und sie an sich verändernde Gegebenheiten anzupassen.

Wir sehen das schicke Haus und das teure Auto unseres Nächsten. Doch oft trügt der Schein.

Rabbiner Ibn Esra etwa hat bereits vor gut 900 Jahren mit der Frage gerungen, wie ein Mensch sein Begehren kontrollieren könne. In einer für einen orthodoxen Rabbiner bemerkenswert offenherzigen und unverkrampften Art beschrieb er das Problem in seinem Kommentar anhand einer Parabel.

Ein Bauer etwa, der noch alle Sinne beisammenhat und eine bildhübsche Prinzessin erblickt, würde erst gar nicht danach trachten, mit ihr zu schlafen, weil er doch genau wüsste, dass dies unmöglich sei. Und ebenso wenig würde sich jemand danach sehnen, mit seiner eigenen Mutter zu schlafen – selbst wenn sie wunderschön wäre –, weil er schon seit seiner Jugend daran gewöhnt ist, zu wissen, dass sie für ihn verboten sei.

Rabbiner Obadja Sforno ergänzte einige 100 Jahre später, dass man die begehrten Dinge quasi als völlig unerreichbar betrachten müsse, da ein Mensch von Natur aus solche Dinge nicht begehre, die per se gar nicht infrage kommen.

Kontrolle Es ist also durchaus möglich, das zehnte Gebot einzuhalten! Wir können uns selbst und unsere Gedanken manipulieren, einhegen, beherrschen. Da­zu bedarf es geistiger Kontrolle, der Errichtung von Tabus und selbst gesetzter Grenzen. Der Weg dorthin ist zwar mitunter steinig, doch er schützt uns selbst letztlich ebenso sehr wie unsere Mitmenschen. Und das sollte die Anstrengung doch wert sein, oder?

Bleibt die Frage, warum das Haus, die Frau, der Knecht et cetera erst konkret bezeichnet werden, bevor ganz allgemein verboten wird, dasjenige zu begehren, was dem Nächsten gehört? Eine chassidische Antwort besagt, dass wir von den einzelnen Dingen, die ein Mensch besitzt, zu schnell auf sein Leben schließen.

Man erkennt, dass es diesen Menschen mitunter viel schlechter geht als einem selbst.

Wir sehen das tolle Haus, die attraktive Ehefrau, das kostspielige Auto unseres Nachbarn und schließen deshalb auf ein erfülltes und glückliches Leben. Doch der Schein kann nur allzu leicht trügen. Wenn man den Blickwinkel weitet und erfährt, welche Probleme auch die Menschen haben, von denen man es im ersten Moment nicht geglaubt hätte, verändert sich automatisch die eigene Sicht auf die Dinge.

Man erkennt, dass es diesen Menschen mitunter viel schlechter geht als einem selbst. Und dass der erste Anschein, der erweckt worden ist, durch den Blick auf die Gesamtsituation deutlich relativiert wird. Mitunter dürfte also schon dieser Perspektivwechsel reichen, um das brennende Verlangen zu löschen.

Held Unsere Weisen erklärten in den Sprüchen der Väter, dass derjenige ein Held sei, der seine Leidenschaften besiege (Pirkej Awot 4,1). Der wahre Held ist aus jüdischer Perspektive also weder der heroische Kämpfer auf dem Schlachtfeld noch der mächtige Herrscher oder der erfolgreiche Geschäftsmann.

Ein Held ist, wer seine Leidenschaften besiegt. Wer mit seinem Verlangen, seinen Begierden, seinen Trieben ringt und sie zähmt. Wer verhindert, dass schädliche Gedanken zu noch schädlicherem Handeln führen.

Und im Midrasch heißt es: «Die Schlechten werden durch ihre Herzen beherrscht ... und die Rechtschaffenen beherrschen ihre Herzen» (Bereschit Rabba 67,8). Einfach ist es nicht. Ganz und gar nicht. Aber wann war es das schon jemals?

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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