Zukunft

Das Testament des Patriarchen

Letzter Wille: Kurz vor seinem Tod verfügt Jakow, was aus seinen Söhnen und deren Nachkommen werden soll. Foto: Thinkstock

Zukunft

Das Testament des Patriarchen

Jakows Segen spielt eine große Rolle bei der Legitimierung späterer Machtverhältnisse

von Rabbiner Joel Berger  09.01.2017 17:00 Uhr

An diesem Schabbat schließen wir die Lesung des 1. Buches Mose, Bereschit, in den Synagogen ab. Der dritte der Erzväter, Jakow, liegt im Sterben. Er lässt noch seine zwölf Söhne kommen und segnet sie alle zum Abschied. Vorher aber verkündet er den Söhnen seinen letzten Willen: Er möchte nicht in Ägypten, sondern in der Höhle von Machpela bei Hebron bestattet werden. Dieses Stück Land hatte Awraham zu einem hohen Preis von den Söhnen Chets, den Hethitern, erworben.

Josefs Geschwister waren über den Tod des Vaters tieftraurig – aber auch besorgt. »Als nun die Brüder Josefs sahen, dass ihr Vater tot war, sagten sie: Wenn nur Josef uns nicht hasst und uns (nun) alles Böse vergälte, das wir (einst) ihm angetan haben« (1. Buch Mose 50,15) – was wird dann hier in der Fremde aus uns werden? »Daher ließen sie Josef ausrichten: Dein Vater hat vor seinem Tod geboten: So sollt ihr zu Josef sprechen: Vergib deinen Brüdern die Schuld« (50, 16–17).

Schrecken Das schlechte Gewissen der Brüder führt dazu, dass sie sich nach dem Tod des Vaters vor Josefs Rache fürchten. Ein exegetischer Midrasch berichtet, dass Josef auf dem Rückweg von der Beerdigung seines Vaters in der Wüste jene Zisterne aufsuchte, in die ihn seine Brüder einst hineingeworfen hatten, bevor sie ihn nach Ägypten verkauften. Dass sich Josef plötzlich mit der Vergangenheit auseinandersetzte, jagte den Brüdern einen gehörigen Schreck ein. Daher holten sie hervor, was ihr Vater angeblich geboten hatte.

Es traf Josef schmerzlich, dass die Brüder seine Rache fürchteten. Er bat sie zu sich und sagte: »Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an G’ttes statt? Ihr gedachtet, es böse mit mir zu machen, aber G’tt gedachte, es zum Guten zu lenken, um das auszuführen, was jetzt geschieht: ein großes Volk am Leben zu erhalten« (50, 19–21).

Diese Worte zeigen uns, dass der Mensch nicht immer mit letzter Sicherheit zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, weil dies keine absoluten Kategorien sind. »Ihr habt in böser Absicht gegen mich gehandelt«, wollte Josef sagen, »und trotzdem wuchs daraus für mich wie für euch Gutes: Erst nachdem ihr mich verkauft habt, konnten wir eine Hungersnot überwinden und viele Menschenleben retten. Ich werde es euch daher nicht heimzahlen. Nur in G’ttes Macht steht es, so zu handeln.«

Deutung Am Ende unserer Parascha lesen wir den Segen Jakows. Er wird von einigen Gelehrten als Testament des Erzvaters gedeutet. Jakow sammelte seine Söhne und sprach zu jedem Einzelnen. Er verbarg ihre Fehler nicht, wies ihnen ihren Platz unter den anderen Geschwistern zu.

Die späteren Stämme des Volkes Israel trugen die Namen der Söhne Jakows, daher galt der Segen nicht nur einer Person, sondern einem ganzen Stamm. Jakow segnete sie gemäß ihren Fähigkeiten, versprach ihnen Wohlergehen in der Zukunft. Herausgehoben wurde Jehuda, der spätere Führungsstamm. Nach Jehuda werden wir in aller Welt Juden genannt. Besonders gelobt und geehrt wurde zudem der Lieblingssohn Josef sowie dessen Söhne Efrajim und Menasche, die gesegnet und damit von Jakow quasi adoptiert wurden.

Der niederländische Bibelwissenschaftler Raymond de Hoop betont, dass der Segen Jakows eine wichtige Rolle bei der Legitimierung der späteren Machtverhältnisse spielte. Hoop zieht Parallelen zu den Königstestamenten Ägyptens, die ebenso die Berechtigung zur Thronfolge im Lande sichern sollten. In unserem Wochenabschnitt werden im Segen die Rechte Jehudas an der späteren königlichen Macht gegenüber den Geschwistern bestätigt.

vorläufer Jakows Segensworte können als direkter Vorläufer der literarischen Testamente der späteren hellenistischen Epoche gedeutet werden. Sie bewahrten für uns wichtige Züge und Motive der biblischen Werke. Sie bildeten eine beliebte Gattung der antiken Literatur mit biblischen Motiven. Längere Teile wurden sogar in den Handschriften von Qumran am Toten Meer entdeckt wie auch später in der Handschriftensammlung der Kairoer Genisa. Ihre Sprache ist Hebräisch, Aramäisch und später durch das Wirken der Klöster sogar Griechisch und Latein.

Viele dieser Werke wurden unter dem Namen eines biblischen Helden geschrieben wie Adam, Awraham, König Salomon, oder sie wurden anonym verfasst. Die Autoren haben ihren eigenen Ruhm dem Inhalt ihrer Werke untergeordnet.

Man nennt diese Werke auch narrative Exegese, erzählende Schrifterklärung. Ihre Intention war es, moralischer Wegweiser und ethische Willenserklärung für die Zukunft zu sein – in der Hoffnung, dass die Leser ihren Lebenswandel veredeln.

schlussformel Jedes Mal, wenn wir die Lesung eines Buches der Tora beenden, sprechen wir in der Synagoge traditionell die Worte: »Chasak, Chasak Wenitchasek« – sei stark, sei stark, und mögen wir gestärkt werden!

Betrachtet man diesen hebräischen Ausruf, bemerkt man, dass das hebräische Verb »stark sein« (ch–s–k) dreimal wiederholt wird. Es handelt sich um einen aschkenasischen Brauch. Sefardisch-orientalische Tradition ist es hingegen, am Ende einer jeden Toralesung »chasak u’waruch« zu sagen. Dies bedeutet »Mögest du stark und gesegnet werden«.

Dreimal wiederholt wird das Wort »chasak« auch in der g’ttlichen Stärkung von Mosches Nachfolger Jehoschua. G’tt spricht zu ihm: »Sei stark und mutig, denn du sollst diesem Volk das Land als Erbe austeilen, das ich ihren Vätern geschworen habe, ihnen zu geben. Doch sei sehr stark und mutig, dass du darauf achtest, zu tun nach dem ganzen Gesetz, das mein Knecht Mosche dir geboten hat. Weiche nicht davon ab (...), auf dass es dir gelinge überall, wohin du gehst. Sei stark und mutig! Erschrick nicht und fürchte dich nicht, denn der Herr, dein G’tt, ist mit dir überall, wohin du gehst« (Jehoschua 1, 6–9).

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajechi erzählt davon, wie Jakow die Enkel Efrajim und Menasche segnet. Seine Söhne versammeln sich um sein Sterbebett, und an jeden von ihnen wendet er sich mit letzten Segensworten. Jakow stirbt und wird seinem Wunsch entsprechend in der Höhle Machpela in Hebron beigesetzt. Josef verspricht seinen Brüdern, nun für sie zu sorgen. Später dann, bevor auch Josef stirbt, erinnert er seine Brüder daran, dass der Ewige sie in das versprochene Land zurückführen wird. Wenn sie dorthin zurückkehren, sollen sie seine Gebeine mitnehmen. Am Ende der Parascha stirbt Josef im Alter von 110 Jahren.
1. Buch Mose 47,28 – 50,26

Sukka

Gleich gʼttlich, gleich würdig

Warum nach dem Talmud Frauen in der Laubhütte sitzen und Segen sprechen dürfen, es aber nicht müssen

von Yizhak Ahren  06.10.2025

Chol Hamo’ed Sukkot

Dankbarkeit ohne Illusionen

Wir wissen, dass nichts von Dauer ist. Genau darin liegt die Kraft, alles zu feiern

von Rabbiner Joel Berger  06.10.2025

Tradition

Geborgen unter den Sternen

Mit dem Bau einer Sukka machen wir uns als Juden sichtbar. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Nachbarn erklären können, was uns die Laubhütte bedeutet

von Chajm Guski  06.10.2025

Sukkot

Fest des Vertrauens

Die Geschichte des Laubhüttenfestes zeigt, dass wir auf unserem ungewissen Weg Zuversicht brauchen

von Rabbinerin Yael Deusel  06.10.2025

Sarah Serebrinski

Sukkot: Freude trotz Verletzlichkeit

Viele Juden fragen sich: Ist es sicher, eine Sukka sichtbar im eigenen Vorgarten zu bauen? Doch genau darin – in der Unsicherheit – liegt die Botschaft von Sukkot

von Sarah Serebrinski  05.10.2025

7. Oktober

Ein Riss in der Schale

Wie Simchat Tora 2023 das Leben von Jüdinnen und Juden verändert hat

von Nicole Dreyfus  05.10.2025

Übergang

Alles zu jeder Zeit

Worauf es in den vier Tagen zwischen Jom Kippur und Sukkot ankommt

von Vyacheslav Dobrovych  03.10.2025

Kirche

EKD: Gaza-Krieg nicht zum Anlass für Ausgrenzung nehmen

Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs: »Offene und gewaltsame Formen des Antisemitismus, besonders in Gestalt israelbezogener Judenfeindschaft, treten deutlich zutage«

 03.10.2025

Ha’asinu

Mit innerer Harmonie

Nur wer sich selbst wertschätzt und seine Fähigkeiten kennt, kann wirklich wachsen

von Abraham Frenkel  03.10.2025