Das Vorhandensein einer wichtigen Aufgabe, die Verantwortung für etwas, das uns am Herzen liegt, und vor allem für jemanden, der uns am Herzen liegt, lässt den Menschen seit der Urzeit neue Kräfte finden.
Die Vervollkommnung des Menschen durch g’ttlich auferlegte Verantwortung ist ein wiederkehrendes Thema der jüdischen Schriften und Gesetze.
Gesellschaft Die jüdische Tradition bespricht aber nicht nur die Wichtigkeit des verantwortlichen Handelns, sondern auch die Situationen, in denen die Verantwortung für andere und für sich selbst, für die Gesellschaft und für die Familie miteinander konkurrieren.
Die Halacha, das jüdische Gesetz, versucht auszudiskutieren, wie man in verschiedensten Situationen gerecht handelt. Höchstes Ziel ist dabei zu verstehen, wie man in jeder einzelnen irdischen Situation dem biblischen Gebot: »Ihr sollt heilig sein; denn Ich (G’tt) bin heilig« (3. Buch Mose 19,2) gerecht wird.
Beginnen wir unsere Betrachtung der Verantwortung gegenüber der Schöpfung mit der Verantwortung gegenüber den Tieren. Abgesehen davon, dass Tierquälerei streng verboten ist, geht die Halacha in ihrer Verantwortung für Tiere noch einen Schritt weiter. Der Talmud (Berachot 40a) verbietet es einem Haustierbesitzer zu essen, bevor er sein Tier nicht gefüttert hat.
Körper Das jüdische Gesetz verpflichtet uns auch, auf unsere körperliche Gesundheit zu achten. Die talmudischen Weisen leiten die Verpflichtung, sich um den Körper und dessen Gesundheit zu sorgen, aus einem Vers im 5. Buch Mose ab, in dem es heißt: »So hütet euch um eurer Leben willen« (4,15).
Interessanterweise geht es in dem oben genannten Vers kontextuell um eine Warnung vor der Verehrung von Bildnissen. Der gesamte Vers lautet: »So hütet euch um eurer Leben willen – denn ihr habt keine Gestalt gesehen an dem Tag, da G’tt mit euch redete (…), dass ihr euch nicht versündigt und euch irgendein Bildnis macht« (4, 15–16).
GESUNDHEIT Die Weisen interpretierten den ersten Teil des Verses allerdings unabhängig vom weiteren Kontext und sehen in ihm ein biblisches Gebot, das zum Schutz der Gesundheit auffordert. Inbegriffen darin ist die Verpflichtung, keine Dinge zu tun, die der Gesundheit nachweislich schaden, und sich um den Schutz der Gesundheit zu bemühen. Gesundes Essen zu sich zu nehmen und Sport zu treiben, ist Teil dieses Gebotes.
Vielleicht lehrt die jüdische Tradition das Gebot zur Hütung der Gesundheit aus der Warnung vor dem Erschaffen eines Bildnisses, weil das bewusste Zerstören des eigenen Lebens und die damit verbundene Ablehnung der g’ttlichen Mission dem Götzendienst gleicht. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Mensch sich kein Bildnis von G’tt machen soll, da er selbst im Ebenbild G’ttes erschaffen wurde und nach dem G’ttlichen in sich selbst und seinem Nächsten statt in Objekten suchen soll. Die Zerstörung des Lebens, in dem das Ebenbild G’ttes lebt, ist damit ein Akt der Ablehnung G’ttes und der Hinwendung zum Götzen.
Hillel Diese Interpretation wird durch eine Geschichte von dem talmudischen Gelehrten Hillel unterstützt. Es wird berichtet, dass er aus dem Lehrhaus hinausging und seinen Schülern verkündete, er würde nun zur Erfüllung eines Gebotes eilen. Als seine Schüler ihn fragten, welches Gebot er verrichten möchte, sagte Hillel, er gehe ins Badehaus, um seinen Körper zu waschen. Er fügte hinzu: »Wenn die Statuen des Kaisers im Theater ständig gereinigt werden, dann muss der Mensch, der im Ebenbild G’ttes erschaffen wurde, umso mehr seinen Körper reinigen!«
Das Volk Israel gleicht einem Boot: Wenn in einer Kabine ein Loch ist, sinkt das gesamte Schiff.
Des Weiteren verpflichtet uns die Halacha, die Verantwortung für unsere jüdischen Glaubensgeschwister zu übernehmen. Im Talmud (Schewuot 39a) heißt es: »Alle Israeliten sind füreinander verantwortlich.«
Die Weisen veranschaulichen dies an einer anderen Stelle mit einer Metapher: »Das Volk Israel gleicht einem Boot. Wenn in den unteren Kabinen ein Loch ist, kann niemand sagen: ›In meiner Kabine ist kein Loch!‹ Denn wenn ein Teil des Schiffes beschädigt ist, kann das gesamte Schiff sinken.«
BUND Wir sehen also, dass die talmudischen Weisen das jüdische Volk als eine Einheit gesehen haben – und nicht nur als die Gesamtheit aller Juden. Jeder ist verpflichtet, den anderen zu schützen. Jeder ist verpflichtet, für den anderen da zu sein. Das jüdische Volk wird aufgefordert, sich wie eine Familie zu sehen, in dem jedes Individuum durch einen Bund der Liebe mit dem anderen verbunden ist.
An dieser Stelle ist eine weitere interessante Regel aus dem jüdischen Gesetz, der Halacha, zu bemerken. In der Tora heißt es: »Wenn einer deiner Brüder arm ist in einer Stadt in deinem Land, das dein G’tt, dir geben wird, so sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten« (5. Buch Mose 15,7). Da der Vers zunächst den Bruder, dann die Stadt und dann das Land erwähnt, wird dieser Vers nicht nur als Aufforderung zur Hilfe, sondern auch als Hierarchie verstanden. Wenn man Bedürftigen hilft, so soll man zunächst den Bedürftigen der eigenen Familie, dann den Bedürftigen der eigenen Stadt, dann den Bedürftigen anderer Städte helfen. Jeder ist aufgefordert, von innen nach außen zu helfen.
Die jüdische Tradition sieht es als falsch an, die eigene Familie hungern zu lassen, während man fremde Familien mit Hilfe versorgt. Auch wenn das gesamte jüdische Volk eine Einheit ist, geht die engere Verwandtschaft so lange vor, bis man über die Ressourcen verfügt, um auch andere zu versorgen.
priester Das jüdische Volk in seiner Gesamtheit trägt laut der Schrift die Verantwortung, ein »Reich der Priester (Kohanim) und Könige« (2. Buch Mose 19,6) zu werden. So wie die Kohanim die Rolle der treibenden moralischen Instanz im jüdischen Volk ausüben sollen, so soll das gesamte Volk zu den Kohanim der Menschheit werden. Und das nicht, weil das jüdische Volk in irgendeiner Art und Weise überlegen ist, sondern weil es einer Aufgabe geweiht wurde.
Laut dem Propheten Jeschajahu wird der Tag kommen, an dem Israel in dieser Rolle von der gesamten Welt anerkannt wird: »Denn von Zion wird die Tora ausgehen und das Wort G’ttes von Jerusalem« (Jeschajahu 2,3).
Der Autor studiert Sozialarbeit in Berlin.