Prophezeiungen

Das Orakel auf der Brust

Einst lieferte Aharons Schild Antworten auf drängende Fragen. Dann mussten Juden lernen, die gʼttlichen Zeichen im Alltag selbst zu bemerken

von Vyacheslav Dobrovych  29.02.2024 10:28 Uhr

Der Kohen Gadol (Hohepriester) in seiner Amtskleidung (Illustration) Foto: imago images/UIG

Einst lieferte Aharons Schild Antworten auf drängende Fragen. Dann mussten Juden lernen, die gʼttlichen Zeichen im Alltag selbst zu bemerken

von Vyacheslav Dobrovych  29.02.2024 10:28 Uhr

In Paulo Coelhos Roman Der Alchimist begibt sich der spanische Hirtenjunge Santiago auf eine Schatzsuche. Zu Beginn seiner Reise begegnet ihm ein alter und weiser König, der zwei Steine namens Urim und Thummim aus seiner Brustplatte holt. Er lehrt dem Jungen, dass die Steine seine Fragen beantworten können. Wenn Santiago nicht weiterweiß, könne er nach den Steinen greifen: Sollte er zuerst den schwarzen Stein herausholen, so ist die Antwort ein »Ja«, ist er weiß, ein »Nein«. Der König lehrt dem Jungen aber auch, dass das Schwinden des Zweifels und das damit verbundene Abgeben der Verantwortung einen hohen Preis hat.

Statt der klaren Antworten der Steine sollte Santiago lieber die »Sprache des Universums« lernen. Omen und Zeichen in der Natur, die dem Menschen den Weg auf der persönlichen Reise des Lebens zeigen und Hoffnung vermitteln. Im Laufe der Geschichte verzichtet Santiago auf die Urim und Thummim – er lernt die Zeichensprache des Universums zu deuten.

Idee der Urim und Thummim als himmlische Wegweiser

Die Idee der Urim und Thummim als himmlische Wegweiser hat Coelho aus der Tora entnommen. Vielleicht erinnern Sie sich: Sie kam in der Parascha vor, die wir am letzten Schabbat gelesen haben.

Dort heißt es: »In den Choschen für das Urteil aber lege die Urim und Thummim; sie sollen auf dem Herzen Aharons sein, wenn er vor Gʼtt tritt« (2. Buch Mose 28,30). Was ist der Choschen, und warum sollen die Urim und Thummim darin platziert werden?

Laut der Tora musste auf der Kleidung des Kohen Gadol, des Hohepriesters (zu der Zeit, als die Tora gegeben wurde, erfüllte Aharon diese Rolle), eine Brustplatte namens Choschen befestigt werden. Darauf befanden sich zwölf Edelsteine, und auf jedem waren die Namen von jeweils einem der zwölf Stämme eingraviert.

Wenn etwas Wichtiges unklar war, trat ein israelischer König oder ein anderes Oberhaupt vor den Kohen Gadol. Dieser musste seine Frage flüsternd stellen. Der Hohepriester schaute dann auf die Brustplatte und sah die eingravierten Buchstaben aufleuchten, sodass sich daraus ein Satz oder mehrere Sätze ergaben. Die Antwort wurde dann vom Hohepriester verkündet.

Die eingravierten Buchstaben leuchteten und ergaben Sätze.

Laut dem Talmud ist eine solche Antwort als direkte Botschaft von Gʼtt zu verstehen und genauer als das Wort eines Propheten. Denn das Eintreten der Voraussagungen eines Propheten kann, falls der Prophet den Menschen eine schlechte Zukunft vorhersagt, verhindert werden, wenn die Menschen sich bessern. Die Worte der Brustplatte aber treten unabhängig vom Inhalt immer ein. Laut der Meinung von Maimonides, des Rambam, leuchteten die Buchstaben nur in der Vision des Hohepriesters auf, und die Antworten waren für andere nicht sichtbar.

Laut unseren Weisen sind mit Urim und Thummim kleine Schriftstücke gemeint, die in den Choschen, die Brustplatte, gesteckt werden. Die Brustplatte kann dadurch als Orakel genutzt werden, das ebenfalls den Namen Urim und Thummim trägt. Mit anderen Worten: Wenn der Choschen dank der inserierten Schriftstücke als Orakel genutzt wird, nennt man dies Urim und Thummim.

Da dies so nicht explizit im Vers steht und es, betrachtet man den Wortlaut, so aussieht, als sei das Orakel ein vom Choschen unabhängiges Objekt, glaubten einige Christen, dass die Urim und Thummim Steine waren, die aus dem Choschen herausgeholt wurden. Dies inspirierte wohl auch Coelhos Interpretation.

»Urim« bedeutet Lichter, und »Thummim« bedeutet Vollkommenheit

»Urim« bedeutet Lichter, und »Thummim« bedeutet Vollkommenheit, da die Worte des Orakels, das die Botschaften Gʼttes verkündet, die Menschen erleuchteten und immer richtiglagen.

Die Könige Israels griffen häufig auf das Orakel zurück. Ein Beispiel aus dem 1. Buch Schmuel: Die Amalekiter griffen Israel an und entführten Frauen und Kinder. Davids erste Reaktion ist, nach dem Ephod zu rufen, dem Kleidungsstück, an dem die Brustplatte befestigt war: »Und als Evjatar das Ephod zu David gebracht hatte, befragte David Gʼtt und sprach: Soll ich dieser Schar nachjagen, und werde ich sie einholen? Er (Gʼtt) sprach: Jage ihr nach! Du wirst sie einholen und retten« (30,8). Die Befragung des Orakels wird hier mit der direkten Kommunikation mit Gʼtt gleichgesetzt.

Das letzte Mal wurden die Urim und Thummim benutzt, um zu ermitteln, wer noch als für den Tempeldienst geeigneter Kohen gelten kann, nachdem im babylonischen Exil zahlreiche Juden Familien mit nichtjüdischen Partnern gegründet haben (Esra 2,63).

Doch dann kam es zur großen Veränderung. Die Weisen Israels beteten zu Beginn der Epoche des Zweiten Tempels intensiv für die Auslöschung des Wunsches nach Götzendienst. Gʼtt gewährte den Weisen ihren Wunsch, allerdings hatte dies weitreichende Folgen: Nicht nur der Götzendienst, sondern auch die Prophetie verschwand. Mit dem Verlust der Prophetie hörten auch die Urim und Thummim auf zu funktionieren. Im Zweiten Tempel trug der Hohepriester zwar noch den Choschen auf der Brust, er fungierte aber nicht mehr als Orakel.

Die talmudischen Rabbiner hatten, anders als die Könige Israels, nicht mehr die Fähigkeit, klare und unmissverständliche Antworten zu empfangen. Es begann eine Epoche, welche die Tore für Zweifel, zahlreiche Sekten und Meinungsverschiedenheiten öffnete.

Doch wie in Coelhos Roman hat auch hier der Verzicht auf die Klarheit seine Vorteile. Der Talmud lehrt, dass die prophetenlose Epoche dazu führte, dass man begann, Gʼttes Botschaft im Studium der Schrift, in der Diskussion, im Gebet und auch im Alltag zu suchen. Ein Mensch, der keine zweifelsfreie Botschaft von Gʼtt erhalten kann, fängt an, nach Ihm zu suchen.

In den Irrungen und Wirrungen dieser Suche geben einige auf. Andere bleiben standhaft, lassen sich nicht von der Dunkelheit beirren und lernen, Gʼtt im Natürlichen und im Alltäglichen zu finden. Sie lernen, dass jede Situation, nicht nur das Übernatürliche, ein Ausdruck des Gʼttlichen ist.

Das Studium der Tora und der Halacha ist ein Wegweiser.

Doch wie kann ein Mensch das Gʼttliche finden, in einer Welt, die frei ist von übernatürlichen Wundern und offener Prophetie? Eine Möglichkeit ist das Studium der Tora. Unsere Weisen lehren: »Seit dem Tag, an dem der Tempel zerstört wurde, ist unserem Gʼtt nichts weiter in der Welt geblieben als die vier Ellen, in denen Halacha gelernt wird« (Brachot 8a). Das Studium der Tora, vor allem der Halacha, also der praktischen Seite der Tora, ist laut dem Talmud ein Wegweiser in die richtige Richtung.

Eine zweite Form, die Stimme Gʼttes im eigenen Leben zu hören, kann die auch schon von Coelho erwähnte »Sprache des Universums« sein. Vor Kurzem hörte ich ein Interview mit der aus der Hamas-Gefangenschaft befreiten Mia Schem. Sie erzählte, dass sie während ihrer Zeit als Geisel in Gaza ständig drei Lieder im Kopf hatte und sich diese selbst vorsang: »Bo Habaita« (Komm nach Hause) von Shula Chen, das Lied »Mochel ve Soleach« (beides sind Wörter, die verschiedene Formen von Vergebung bedeuten) und »Coming Home« (Nach Hause kommen) von Skylar Grey. An einem Tag machte der Terrorist, der Mia Schem überwachte, das Radio an, und diese drei Lieder wurden in genau dieser Reihenfolge gespielt. Schem sagt, dass es für sie ein Zeichen war, das ihr Hoffnung gab, durchzuhalten.

Schon unsere Weisen lehrten, dass Josef, nachdem er von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft worden war, mit einer Karawane weggebracht wurde, die normalerweise für übelriechende Produkte bestimmt war. An jenem Tag aber transportierte sie wohlriechende Produkte, um Josef selbst im tiefsten Moment seines Lebens zu signalisieren, dass alles gut wird und Gʼtt ihn nicht aufgegeben hat. Ab und zu, meistens unerwartet, aber immer dann, wenn wir es am meisten brauchen, schickt uns Gʼtt eine Synchronität, um uns zu lehren, dass die Zufälle der Welt keineswegs Zufälle sind.

Eine dritte Form, mit Gʼtt zu kommunizieren, ist das Gebet. Unsere Weisen lehren uns, dass jedes Gebet einen Einfluss auf das Leben hat. Jedes Mal, wenn wir uns zum Schöpfer wenden und für eine bestimmte Sache beten, ist es so, als hätten wir einen Schritt in Richtung dieser Sache getan. Die Schritte addieren sich, und das Gebet bringt uns früher oder später das gewünschte Resultat. Wichtiger als das Resultat aber ist die Erkenntnis, dass der Schöpfer uns das gab, wofür wir gebetet haben, selbst als es für uns aussichtslos schien.

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