Pinchas

Das Los entscheidet

Was wird es werden? Foto: Getty Images

Pinchas

Das Los entscheidet

Warum in biblischen Geschichten der vermeintliche Zufall eine Rolle spielte

von Vyacheslav Dobrovych  18.07.2025 12:49 Uhr

Im Wochenabschnitt Pinchas lesen wir, dass die Stämme Israels ihre Anteile am Land Israel durch ein Los (hebräisch: Goral) zugeteilt bekommen sollen: »Doch soll man das Land durchs Los austeilen; nach den Namen der Stämme ihrer Väter sollen sie ihr Erbteil erhalten« (4. Buch Mose 26,55). Auch an anderen Stellen der Tora begegnet uns das Los. Am Jom Kippur wird beispielsweise durch ein Los bestimmt, welcher Bock als Sündopfer dargebracht und welcher als Sündenbock in die Wüste geschickt wird (3. Buch Mose 16, 9–10).

Mosches Schüler Jehoschua benutzte das Los, um einen Übeltäter ausfindig zu machen (Jehoschua 7). Und selbst Haman, der Bösewicht aus dem Buch Esther, warf das Pur, das Los, um ein Datum für den geplanten Genozid an den Juden zu bestimmen. Im Buch Esther heißt es: »Und Haman warf das Pur – das ist der Goral – vor sich hin, von Tag zu Tag und von Monat zu Monat« (3,7). Tatsächlich aber bestimmte er mit dem Los das Datum seines eigenen Untergangs. Nach diesen Würfeln wurde das Purimfest benannt.

Warum spricht Gʼtt nicht direkt zu Mosche und sagt ihm, welcher Stamm welches Gebiet bekommen soll?

Die zentrale Frage aber bleibt: Warum werden in unserem Wochenabschnitt Lose verwendet, um die Landverteilung zu bestimmen? Warum spricht Gʼtt nicht direkt zu Mosche und sagt ihm, welcher Stamm welches Gebiet bekommen soll? Noch dazu verfügten die Israeliten in der Wüste über die Urim und Tumim, jene gʼttlichen Werkzeuge, die dem Kohen Hagadol, dem Hohepriester, in Form einer Brustplatte mit zwölf Edelsteinen zur Verfügung standen. Auf jedem dieser Steine war der Name eines Stammes eingraviert. Wenn eine wichtige Frage unbeantwortet blieb, trat ein Oberhaupt Israels vor den Kohen Hagadol und stellte ihm flüsternd seine Frage, woraufhin der Priester die Brustplatte betrachtete. Bestimmte Buchstaben begannen zu leuchten und formten so die gʼttliche Antwort. Im Talmud heißt es, dass diese Form der Kommunikation als direkter Ausdruck des gʼttlichen Willens zu verstehen ist – sogar verlässlicher als Prophetenworte, denn während negative Prophezeiungen eines Propheten noch durch Umkehr abgewendet werden können, tritt das Urteil der Urim und Tumim unweigerlich ein.

Umso erstaunlicher ist es, dass zur Landverteilung nicht nur die Urim und Tumim, sondern auch das Los zum Einsatz kamen. Der Talmud (Bava Batra 122a) beschreibt diesen Prozess im Detail: Vor dem Kohen Hagadol stand ein Helfer mit zwei Boxen – in der einen befanden sich die Namen der Stämme, in der anderen die Beschreibungen der Gebiete. Der Kohen Hagadol schaute auf seine Brustplatte und verkündete beispielsweise: »Zevulun wird nun gezogen, und das Gebiet um Akko gehört ihm.« Daraufhin griff der Helfer in die erste Box und zog einen Zettel mit dem Stammes­namen – es war Zevulun. Dann griff er in die zweite Box und zog das Gebiet – Akko. Die Ziehungen des Loses bestätigten also exakt die Vorhersage der Urim und Tumim.

Die Wahrscheinlichkeit, dass zwölf Ziehungen aus zwei Boxen exakt mit den Vorhersagen der Urim und Tumim übereinstimmen, ist verschwindend gering. Es ist ein Wunder – und damit ein Zeichen dafür, dass auch der Zufall nicht außerhalb der gʼttlichen Ordnung steht, sondern eine Form des Wunders ist.

Der Glaube an Gʼtt lehrt, dass es keinen Zufall gibt

Genau darin liegt die tiefere Botschaft: Ein Los symbolisiert Zufall. Der Glaube an Gʼtt aber lehrt, dass es keinen Zufall gibt. Jeder Mensch, dem wir begegnen, jeder Ort, den wir betreten, jedes noch so unscheinbare Detail in unserem Leben – alles ist Ausdruck gʼttlicher Führung. Wenn also sowohl die Urim und Tumim (der explizite gʼttliche Wille) als auch das Goral (der vermeintliche Zufall) zum Einsatz kommen – und beide liefern das identische Ergebnis –, dann ist das eine mächtige Botschaft: Auch der Zufall ist in Gʼttes Hand. Diese Lektion soll das Volk Israel mitnehmen, wenn es in das Land zieht: Was wie Zufall erscheint, ist in Wirklichkeit gʼttliche Fügung. In Anlehnung an Karl Marx könnte man sagen: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte gʼttlicher Entscheidungen.« Während Marx in den ökonomischen Verhältnissen den treibenden Motor der Geschichte sah, offenbart die Tora eine tiefere Wahrheit: Die Geschichte – mit all ihren sichtbaren und verborgenen Kräften – ist Ausdruck gʼttlicher Lenkung.

Diese Erkenntnis begegnet uns bereits im Schma Jisrael, dem jüdischen Glaubensbekenntnis: »Höre, Israel, Adonai ist unser Gʼtt, Adonai ist eins« (5. Buch Mose 6,4). Die verschiedenen Namen Gʼttes stehen für unterschiedliche Aspekte seines Handelns: Adonai für das offenbare Wunder, Elohim für das gʼttliche Wirken durch Naturgesetze – das vermeintlich »Normale«. Doch das Schma lehrt: Adonai ist eins. Das Wunderbare und das Alltägliche – beide sind Ausdruck derselben gʼttlichen Einheit.

Auch der Zufall gehört zum Dienst Gʼttes

Deshalb wird das Goral gerade an Jom Kippur verwendet. Der Bock, der als Sühneopfer dienen soll, wird nicht durch rationale Entscheidung, sondern durch das Los bestimmt – denn auch der Zufall gehört zum Dienst Gʼttes. Der scheinbare Zufall wird in den heiligsten Moment des Jahres eingebunden – und dadurch zu einem Akt der Heiligung selbst.

Die Halacha verbietet das Verwenden von Losen zur Deutung der Zukunft: »Vollkommen sollst du sein mit Haschem, deinem Gʼtt« (5. Buch Mose 18,13). Nur Gʼtt kennt die Zukunft. Doch die Verwendung eines Loses zur Landverteilung oder für kultische Zwecke ist zulässig – denn hier dient der Losentscheid nicht der Spekulation, sondern ist ein Teil der gʼttlichen Offenbarung selbst.

Auch im Buch Jehoschua kommt das Los zum Einsatz – diesmal, um Achan zu entlarven, der verbotenerweise Kriegsbeute genommen hatte. Sein Handeln zeugte von mangelndem Glauben: Er dachte, sich trotz Übertretung der gʼttlichen Gebote bereichern zu können. Doch Jehoschua ließ ihn durch das Goral finden – um ihm und dem Volk zu zeigen: »Selbst der Zufall ist in Gʼttes Hand. Du kannst nichts behalten, was dir nicht zusteht.« Haman ist ein Nachkomme der Amalekiter, die den Glauben an den Zufall symbolisieren. Er versuchte, durch ein Los das Datum für den geplanten Genozid zu bestimmen. Doch Gʼtt lenkte es so, dass das »zufällig« ermittelte Datum zu einem Fest gʼttlicher Vorsehung für alle Zeiten wurde.

Der Autor ist Religionslehrer und Sozialarbeiter der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.

INHALT
Der Wochenabschnitt Pinchas berichtet von dem gleichnamigen Priester, der durch seinen Einsatz den Zorn Gʼttes abwandte. Dafür wird er mit dem »Bund des ewigen Priestertums« belohnt. Die kriegsfähigen Männer werden gezählt, und das Land Israel wird unter den Stämmen aufgeteilt. Mosches Leben nähert sich dem Ende. Deshalb wird Jehoschua zu seinem Nachfolger bestimmt. Am Schluss der Parascha stehen Opfervorschriften.
4. Buch Mose 25,10 – 30,1

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