Chol Hamo’ed Sukkot

Dankbarkeit ohne Illusionen

Das jüdische Leben war schon immer ein Wandern, eine Zwischenstation, selten ein Endpunkt. Foto: Flash 90

»Tow ka’as mi’z’chok« – »Besser die Nachdenklichkeit als das Lachen« (Kohelet 7,3). Wie seltsam, dieses Buch Kohelet am Schabbat Chol Hamoed Sukkot zu lesen – mitten im Fest der Freude! Gerade noch haben wir den Lulaw und den Etrog geschwenkt und die »Zeit unserer Freude« gepriesen, und nun wirft König Schlomo ein melancholisches Licht auf unsere Sukka. Kohelet spricht mit ruhiger, fast resignierter Stimme, und doch hören wir: Diese Nüchternheit ist von tiefer Frömmigkeit durchdrungen. Vielleicht müssen wir jetzt, in dieser Phase des Lebens, verstehen, dass die Freude, zu der uns Sukkot aufruft, nicht oberflächlich beginnt, sondern im Nachdenken über das Vergangene, über das, was vergeht.

Denn unsere Sukkot sind nichts weiter als Hütten. Der Regen dringt ein, der Wind weht, das Dach ist nur mit losen Zweigen bedeckt. Und dennoch sollen wir dort »wohnen«, essen, singen, segnen. Warum? Weil gerade dort, wo nichts fest verschlossen ist, wir das Geheimnis unserer Existenz verstehen können. Kohelet erinnert uns daran, dass alles Sammeln von Besitztümern eitel ist, alles Festhalten daran nur Illusion – »Hawel Hawalim«. Uns wird kein rosiges Weltbild verkauft, sondern eine Haltung des Glaubens nahegelegt: Du, Mensch, bist zerbrechlich – und genau darin liegt deine Würde.

Das jüdische Leben war schon immer ein Wandern, eine Zwischenstation

Wir sitzen also in der provisorischen Hütte und erkennen: Das ist tatsächlich unser natürlicher Zustand. Das jüdische Leben war schon immer ein Wandern, eine Zwischenstation, selten ein Endpunkt. Vielleicht ist deshalb die Sukka das aufrichtigste Symbol unseres Volkes: nicht der imposante Tempel, nicht die Festungsmauer, sondern die flüchtige Hütte. Und doch – oder vielleicht gerade deshalb – schmücken wir sie prächtig, hängen Früchte auf, verzieren sie mit Bildern, essen von schönem Festgeschirr. Unsere »Freuden« sollen nicht trotz der Vergänglichkeit, sondern inmitten dieser Vergänglichkeit strahlen.

Der Schabbat Chol Hamoed verleiht dieser Haltung eine stille Würde. Wir legen die vier Pflanzen nieder, zünden Kerzen an, halten inne. Und während wir im Kerzenlicht dem Rascheln des S’chach lauschen, stellt sich die Frage: Worauf gründet sich unsere Freude? Nicht auf Besitz, nicht auf Erfolg, nicht auf Stabilität – sondern auf der Fähigkeit, das Zerbrechliche anzunehmen. »Tow ka’as mi’z’chok« – besser eine bewusst gewählte Nachdenklichkeit als ein flüchtiges Lachen. Aber das Ziel ist nicht Traurigkeit – am Ende führt uns Kohelet zu einem tieferen, reiferen Lachen: dem Lachen dessen, der sich des Endes bewusst ist und dennoch sagt: »L’Chaim!«

Wir betreten die Sukka in dem Wissen, dass das Dach einbrechen kann

So verbindet sich an diesem besonderen Schabbat die Weisheit der Schrift mit der täglichen Praxis: Dankbarkeit ohne Illusionen. Freude ohne Verdrängung. Vertrauen ohne Absicherung. Die Sukka wird zu einem Lehrhaus. Wir betreten sie in dem Wissen, dass das Dach einbrechen kann, dass ein Sturm aufziehen kann. Und dennoch sprechen wir den Segensspruch mit voller Stimme. Vielleicht ist genau das die höchste Form von Glauben. Wir wissen, dass nichts von Dauer ist – und genau darin liegt die Kraft, alles zu feiern.

Möge dieser Schabbat Chol Hamoed Sukkot uns die Fähigkeit schenken, eine tiefe und weise Freude am stürmischen und vergänglichen Leben zu entwickeln.

Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.

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