In dieser Parascha wendet sich die Tora zunächst an Aharon, den Hohepriester, mit der Anweisung, die sieben Lichter der Menora im Heiligtum zu entzünden. »Beha’alotcha et haNerot«, heißt es: »Wenn du die Lichter hinaufsteigen lässt« (4. Buch Mose 8,2). Warum spricht der Text nicht einfach von »anzünden«? Warum »hinaufsteigen«?
Unsere Weisen sagen, das Licht der Menora sollte so entzündet werden, dass es von selbst brennt, dass die Flamme eigenständig emporsteigt. Der Kohen soll so lange mit dem Docht verweilen, bis das Feuer stark genug ist, sich zu halten. Das ist ein schönes Bild für jede Form geistiger oder spiritueller Führung. Nicht bloß entzünden – sondern begleiten, bis die Flamme selbst lodert.
Es ist leicht, für einen Moment zu begeistern
In gewisser Weise gilt das auch für jüdisches Leben insgesamt. Es ist leicht, für einen Moment zu begeistern, schwerer aber, ein Feuer zu entzünden, das lange brennt. Aharon, der Hohepriester, wird gerade für seine bescheidene, friedliebende Art gerühmt. Eine Führungspersönlichkeit, die nicht dominiert, sondern begleitet und stärkt.
Doch unsere Parascha beschränkt sich nicht auf das kultische Geschehen im Heiligtum. Das Licht der Menora steht im krassen Gegensatz zur Unruhe des wandernden und suchenden Volkes in der Wüste. Und was wir dort hören, ist ernüchternd. Kaum hat die Wanderung begonnen, kehrt die Klage zurück. »Und das Volk war wie Murrende« (4. Buch Mose 11,1). Raschi (1040–1105) bemerkt zu diesem Vers treffend: »›Murren‹ bedeutet hier: eine Ausrede suchend – sie suchten einen Vorwand, um sich von G’tt zu entfernen.«
Das Volk sehnt sich zurück nach Ägypten – ausgerechnet! Und es beklagt sich: »Unsere Seele ist verdorrt …, es gibt nichts außer dem Manna.« Immer wieder murrt das Volk: erst über die Mühsal des Weges, dann über das Manna. Sie sehnen sich nach den »Fischen, Gurken, Melonen, Lauch, Zwiebeln und Knoblauch« Ägyptens (11,5). Man hört den Schmerz: Freiheit ist oft anstrengender als Knechtschaft. In Ägypten war das Essen kostenlos – aber nur, weil der Mensch nichts galt. Jetzt ist das Volk Israel frei – und muss lernen, dass Freiheit nicht von allein kommt (11,6). Was auffällt, ist die psychologische Tiefe des Textes. Die Tora ist kein Heldenepos, das seine Figuren idealisiert. Sie zeigt das Volk Israel mit all seinen Zweifeln, seiner Ungeduld, seinen Rückfällen. Das ist keine Schwäche des Textes, sondern seine größte Stärke.
In der Wüste Sinai ist noch nicht alles geordnet. Es gibt Aufbrüche und Rückfälle, Streit und Klage. Mosche selbst, der große Anführer, verzweifelt für einen Moment: »Ich allein kann dieses ganze Volk nicht tragen!« (11,14). Der Herr antwortet nicht mit Tadel, sondern mit Fürsorge: 70 Älteste werden ihm zur Seite gestellt. G’tt spricht zu Mosche und sagt: »Ich werde herabkommen und mit dir dort sprechen, und von dem Geist, der auf dir ist, nehme ich und lege ihn auf sie« (11,17). Auch das ist eine Lehre für uns: Verantwortung darf geteilt werden. Kein Mensch soll die Last der Gemeinschaft allein tragen müssen.
Später wendet sich die Tora einem heiklen familiären Streit zu: »Mirjam und Aharon redeten über Mosche wegen der kuschitischen Frau« (12,1). Raschi zitiert die Tradition, dass sich die Bemerkung auf Zippora bezieht, und erklärt: »Was veranlasst die Schrift, dies hier zu erzählen? Weil Mosche sich von seiner Frau getrennt hatte …«
Mirjam wird bestraft, sie wird zur Außenseiterin
Was auch immer der genaue Hintergrund ist – Mirjam wird bestraft, sie wird zur Außenseiterin: »Und siehe, Mirjam war aussätzig, wie Schnee« (12,10). Die Rabbiner lesen diese »Zara’at« nicht als medizinische Erkrankung, sondern als moralisches Symptom für böse, für unreine Rede – Laschon Hara.
Warum nur Mirjam, nicht auch Aharon? Warum diese Härte? Unsere Exegeten sagen: Weil Worte Macht haben. Ein leicht gesagtes Urteil kann eine Seele zerstören. Und weil Mirjam die Anführerin war. Wer vorangeht, trägt besondere Verantwortung für seine Worte. In Zeiten wie diesen, da Worte in sozialen Netzwerken oft schneller fliegen als Gedanken, ist diese Lehre aktueller denn je.
Doch auch hier endet die Tora nicht mit Strafe, sondern mit Hoffnung und Solidarität. Das ganze Volk wartet sieben Tage, bis Mirjam wieder gesund ist. Keiner zieht weiter ohne sie: »Und das Volk zog nicht weiter, bis Mirjam wiederaufgenommen war« (12,15). Sie wartet auf Heilung – und das ganze Volk wartet mit ihr, bis es dann mit Mirjam den Weg fortsetzt.
Es ist eine stille, aber kraftvolle Geste der Solidarität. Wer gefallen ist, wird nicht ausgestoßen – sondern aufgenommen, sobald Heilung möglich ist.
Gerade in unserer Zeit, da Worte so schnell, so scharf, so öffentlich geäußert werden – ob in Politik oder im Netz –, erinnert uns Mirjam: Worte haben Folgen. Auch »gut gemeinte« Kritik kann verletzen. Und wie groß ist der Kontrast zur Menora: Dort das Licht, das mit Geduld entflammt wird – hier die Sprache, die mit Hast verletzt.
Jüdisches Leben ist ein Weg – mit Rückschritten, mit Müdigkeit und auch mit Klage
In all dem steckt vielleicht die wichtigste Botschaft dieser Parascha: Jüdisches Leben ist ein Weg – mit Rückschritten, mit Müdigkeit und auch mit Klage. Aber es ist ein Weg, auf dem die Flamme brennt. Wir zünden sie an und begleiten sie, bis sie von selbst leuchtet. Wir sprechen nicht von Perfektion, sondern von Ausdauer. Von einem Licht, das in uns wohnt, auch wenn der Weg durch die Wüste führt.
Beha’alotcha heißt: wenn du das Licht emporsteigen lässt. Vielleicht ist das die größte Aufgabe unseres Lebens: nicht nur zu glauben, sondern Glauben in anderen zu entzünden – und darauf achtzugeben, dass das Licht nicht verlöscht. Manchmal reicht ein Funke, um eine ganze Generation zu wärmen.
Und so ist es an uns, in Familien, in Gemeinden, in Schulen, in der Öffentlichkeit, dieses Licht zu hüten – nicht laut, nicht flackernd, sondern beständig. So wie Raschi sagt: bis die Flamme von selbst emporsteigt.
Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.
inhalt
Der Wochenabschnitt Paraschat Beha’Alotcha beginnt mit den Vorschriften für den Leuchter im Stiftszelt. Danach bringt er weitere Vorschriften für die Leviten. Außerdem wird ein zweites Pessachfest für diejenigen eingeführt, die es im Monat Nissan nicht feiern konnten. Ferner wird geschildert, wie am Tag eine Wolke und nachts eine Feuersäule die Anwesenheit des Ewigen am Stiftszelt anzeigen. Immer wenn die Wolke sich vom Stiftszelt entfernte, setzten auch die Kinder Israels ihren Zug fort.
4. Buch Mose 8,1 – 12,16