Reserven

Da geht noch was

Mit Lichtschwertern und übernatürlichen Kräften: Meister Windu (l.) und Obi-Wan Kenobi aus den »Star Wars«-Filmen Foto: LF

Und G’tt sprach zu Mosche: Geh zu Pharao, denn ich habe ihm das Herz verhärtet» (2. Buch Moses 10,1). Raschi erklärt, dass Mosche mit dem Auftrag gesandt wurde, Pharao zu warnen. Dies scheint jedoch unverständlich, wird doch in dem Vers selbst gesagt, dass er vollkommen unzugänglich geworden war.

Mehrfach wird im Laufe der Verhandlungen mit Pharao betont, dass die Verhärtung seines Herzens bedeutet, dass er uneinsichtig bleiben wird: «Und ich werde Pharaos Herz hart machen, und er wird das Volk nicht ziehen lassen.» Dennoch scheint Raschi zu sagen, dass Pharao eine Warnung hätte beherzigen können.

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, zieht Rabbiner Schalom Berezovsky einen Vergleich mit dem menschlichen Körper: Der Mensch ist im Besitz ihm bekannter körperlicher Kräfte. Darüber hinaus sind ihm jedoch auch zusätzliche Reserven verborgener Kräfte gegeben, von denen er unter normalen Umständen selbst keine Ahnung hat.

Erst wenn er sich in einer lebensgefährlichen Situation bis an die Grenze seiner körperlichen Möglichkeiten getrieben sieht, erwachen in ihm seine übernatürlichen Kräfte, und er ist fähig, Außergewöhnliches zu leisten.

Ebenso verhält es sich mit den geistigen Kräften des Menschen. Er ist im Besitz eines Arsenals ihm bekannter geistiger Kräfte. Darüber hinaus ruhen in ihm aber auch verborgene geistige Kräfte. Zu Zeiten extremer Herausforderungen offenbaren sich im Menschen diese übernatürlichen Kräfte. Diese sind ihm von G’tt eingegeben, um in scheinbar hoffnungslosen Situationen einen Ausweg zu finden.

Besserung In der Teschuwa, dem Prozess der ethischen Besserung des Menschen und der Suche zurück zum Schöpfer, gilt dasselbe Prinzip. Es gibt die Teschuwa, die der Mensch im Rahmen seiner natürlichen geistigen Stärken und Fähigkeiten vollbringt.

Es gibt aber auch Situationen, in denen es unmöglich scheint, dem Einfluss tief verwurzelter schlechter Gewohnheiten und Charakterschwächen zu entkommen. Unter solchen Umständen gelingt die Teschuwa nur mit Hilfe der im Menschen verborgen liegenden übernatürlichen Kräfte.

Wie aber erweckt man diese Kräfte, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, sich in einer schier ausweglosen Situation befindet? Jeder jüdische Mensch ist herausgefordert, in sich das Bewusstsein zu entwickeln, dass der g’ttliche Wille in seiner letzten Konsequenz darauf gerichtet ist, dass niemand verloren geht und verstoßen wird.

Kraft dieses Glaubens weiß der Einzelne, dass, selbst wenn alle seine natürlichen Kräfte erschöpft sind, darüber hinaus übernatürliche Kräfte in ihm ruhen, mit deren Hilfe er sich von der Macht aller negativer Einflüsse loszureißen vermag. In dem der Mensch sich dies bewusst macht, werden die höheren geistigen Kräfte in ihm erweckt.

Die Geschichte Menasches illustriert dieses Prinzip. Im zweiten Buch der Chronik wird von seinen schweren Vergehen als Israels König berichtet. Er machte sich des Götzendienstes schuldig und verführte das jüdische Volk zum Bösen. Als G’tt über ihn die Armee des Königs von Aschur brachte und er in Ketten gelegt in die Gefangenschaft nach Babel geführt wurde, besann Menasche sich: «Und als er bedrängt war, flehte er zum Ewigen, seinem G’tt, und demütigte sich überaus vor dem G’tt seiner Väter. Und er betete zu Ihm, und Er ließ Sich von ihm erbitten und Er eröffnete sich Ihm und brachte ihn zurück nach Jerusalem in sein Königreich» (Chronik II 33, 13).

Im Talmud heißt es hierzu: «Rabbi Jochanan sagte im Namen des Rabbi Schimon Ben Jochai: Es heißt: ›Er ließ sich von ihm erbitten und eröffnete sich ihm.‹ Stattdessen hätte es doch heißen sollen: ›Er erhörte ihn.‹ Dies lehrt, dass G’tt eine Art Öffnung im Firmament machte, um ihn entgegen sonst geltender Richtlinien zu Sich zurückfinden zu lassen» (Sanhedrin 103a).

Nachdem Menasche so viel Unheil angerichtet und sich von G’tt so weit entfernt hatte, stand es nicht mehr in seinen natürlichen Kräften, Teschuwa zu tun. Seine Umkehr erfolgte unter der Mobilisierung seiner verborgenen geistigen Kräfte. Der Vers betont, dass Menasche sich vor G’tt überaus demütigte. Dies deutet an, dass der Grad der Unterwerfung seine natürlichen Kräfte überstieg. Dementsprechend ging G’tt über den Buchstaben des Gesetzes und eröffnete Menasche einen neuen Weg, um ihn wieder bei Sich aufzunehmen.

Einsicht In diesem Licht ist auch der eingangs zitierte Vers zu verstehen. Nachdem das Herz Pharaos einmal so verhärtet war, lag es tatsächlich nicht mehr in seinen natürlichen Fähigkeiten, zur Einsicht zu gelangen. Gerade aus diesem Grund sandte G’tt Mosche, um Pharao mitzuteilen, dass ihm der Weg der Rückkehr dennoch nicht verschlossen ist.

Pharao aber bestritt eine das Natürliche überschreitende Kraft: «Wer ist denn G’tt, dass ich auf Seine Stimme hören sollte? … Ich kenne nicht den Ewigen» (2. Buch Mose 5,2). So wie Pharao das Übernatürliche im Universum in Abrede stellte, leugnete er es auch im Menschen.

Der Talmud (Chagiga 15a) berichtet, wie Acher, einer der größten Gelehrten seiner Zeit, dem Judentum den Rücken kehrte. Nachdem er sehr große Schuld auf sich geladen hatte, ertönte eine himmlische Stimme und verkündete, dass seine Vergehen so schwerwiegend waren, dass er jenseits aller Teschuwa war: «›Kehret um, ihr abtrünnigen Kinder‹ (Jirmijahu 3,22) – außer Acher.» Als Acher dies hörte, sprach er: «Bin ich nun aus jener Welt verdrängt worden, so will ich diese Welt genießen.»

Der Reschit Chochma (Schar Hakeduscha, Kap. 17) sagt jedoch, dass es Acher trotz alledem nicht hätte aufgeben dürfen. Unsere Weisen lehren, dass ein Gast den Anweisungen seines Gastgebers nach Möglichkeit Folge leisten soll, außer wenn es sich um etwas handelt, für das er das Haus des Gastgebers verlassen müsste: «Alles, was der Hausherr dir sagt, tue – außer ›Gehe!‹» (Pesachim 86a). Darin ist ein Gleichnis für das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer zu sehen. Der Mensch ist in G’ttes Welt zu Gast, und so befolge er alles, was ihm sein Gastgeber an Geboten auferlegt.

Mit einer Ausnahme: Wenn G’tt dich des Hauses verweist, dann höre nicht auf Ihn und kehre zu Ihm zurück. Der eigentliche Wille G’ttes ist es, dass der Mensch die in ihm verborgenen geistigen Kräfte gebraucht, um sich über alle Hindernisse hinwegzusetzen, und zu Ihm zurückkehrt.

Von Pharao wäre es nicht zu erwarten gewesen, dass er dies von allein erkannt hätte. Acher aber hätte wissen müssen, dass, selbst wenn ihm gesagt wurde, alle Wege seien verschlossen, dies nur bedeuten kann, dass er sich einen neuen bahnen muss – egal wie hoffnungslos es auch erscheinen mag.

Entschlossen Mit seiner Botschaft an Pharao wendet sich G’tt gleichzeitig auch an das jüdische Volk. Er spricht sowohl zu den gebrochenen Herzen der Juden, die in der ägyptischen Sklaverei unmittelbar vor dem geistigen Abgrund stehen. Ebenso richtet Er sich aber an uns, da wir den Herausforderungen der heutigen Zeit begegnen: Nichts kann dem entschlossenen Menschen den Weg zurück verstellen. Egal, wie weit er sich auch entfernt haben mag – nichts ist unmöglich, es ist nie zu spät.

Der Autor ist Mitglied des Edgware Kollel in London.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Bo schildert die letzten Plagen, mit denen G’tt Ägypten heimsucht: Zunächst Heuschrecken und Dunkelheit, dann kündigen Mosche und Aharon die Tötung aller ägyptischen Erstgeborenen an. Doch das Herz des Pharaos bleibt hart. Die Tora schildert die Vorbereitungen für das Pessachfest und beschreibt dann die letzte Plage: Alle Erstgeborenen Ägyptens sterben, doch die Kinder Israels bleiben verschont. Nun endlich lässt der Pharao die Israeliten ziehen. Zum Abschluss schildert die Parascha erneut die Vorschriften für Pessach und die Pflicht zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.
2. Buch Moses 10,1 – 13,16

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