Talmudisches

Buhrufe im Tempel

Foto: Getty Images

Die Weisen des Talmuds waren keine Freunde des Establishments und stellten ausdauernd das Judentum ihrer Zeit infrage. Doch in ihrer Unangepasstheit waren sie zugleich sehr darauf bedacht, die schriftliche und mündliche Tora ernst zu nehmen.

Als zur Zeit des Zweiten Tempels die Nachfahren von Jehuda Makkabi an die Macht kamen, waren die Weisen über weite Strecken anderer Meinung als die Priester im Tempel. In Pessachim (57a/b) lesen wir davon, dass es viermal laute Rufe der Menschen auf dem Hof des Tempels gegeben habe. Das erste Mal richteten sie sich gegen die Söhne Elis.

Dies waren Priester aus der Familie von Eli, dem Hohepriester. Seine Nachkommen scheinen keine Vorbilder gewesen zu sein. Es heißt, sie hätten das »Heiligtum beschmutzt«. Dementsprechend rief man ihnen zu: »Verschwindet!« So erzählt es jedenfalls der Talmud.

Tempeldienst Etwas genauer wird das Verhalten des Kohen Jissachar aus dem Dorf Barkaj beschrieben. Jissachar hielt sich für etwas Besonderes und wollte den Tempeldienst nicht verrichten, ohne sich die Hände zu schützen. So hüllte er seine Hände, bevor er seinen Dienst antrat, in Seide. Er war sich einfach zu schade. Auch ihm rief man zu: »Verschwinde, Jissachar aus dem Dorf Barkaj!«

Bei den anderen beiden Rufen sollte niemand verschwinden, sondern man forderte, die Tore für zwei besondere Menschen zu öffnen. Das klingt zunächst einmal freundlich, ist aber eine Kritik an denen, die bestimmen, wer Dienst tun soll oder darf.

Jissachar hielt sich für etwas Besonderes und wollte den Tempeldienst nicht verrichten, ohne sich die Hände zu schützen.

Einmal geschah das für Pinchas ben Piachi. Er gehörte offenbar einer Familie an, die man als »schlecht« betrachtete, war aber selbst ein Gerechter.

Und das andere Mal geschah es für Jochanan ben Narbaj. Dort rief man: »Er soll sich den Bauch vollschlagen.« Er galt als so gerecht, dass er vom Opferfleisch essen durfte. Der Talmud erklärt, er habe dafür gesorgt, dass kein Fleisch verschwendet wurde, denn er und seine Familie verputzten alles restlos. »Er verzehrte 300 Kälber, trank 300 Krüge Wein und aß zum Nachtisch 40 Tauben.« Ein gesunder Hunger also.

Fleisch Auch Jissachar aus dem Dorf Barkaj kannte sich mit Fleisch aus. Denn einige Zeilen später erzählt der Talmud sein Schicksal. Ein König und eine Königin hatten beieinandergesessen und darüber diskutiert, welches Fleisch wohl besser sei: Ziegen- oder Lammfleisch. Der König sagte Ziegenfleisch, die Königin hingegen Lammfleisch. Sie kamen zu keinem Schluss und fragten sich, wer ihnen weiterhelfen könnte. Da der Kohen Jissachar beständig Opfer darbrachte und deshalb vom Fleisch der Opfer essen durfte, erschien er ihnen als beste Wahl. Also ließen sie nach ihm rufen und fragten ihn.

»Wenn Ziegenfleisch besser wäre, würde es wohl geopfert werden«, sagte er. Keine diplomatische Antwort. Der König war nicht zufrieden. Der Talmud schildert, dass der König anordnete, Jissachar die rechte Hand abzuhacken (Pessachim 57b).

Hand Jissachar, der so auf seinen Körper bedacht war, bestach denjenigen, der ihm die Hand abhacken sollte. Er solle ihm doch lieber die Linke entfernen. Das tat er auch. Aber als es der König erfuhr, ließ er ihm auch die verbliebene Hand abtrennen. So hatte der empfindliche Jissachar gar keine Hände mehr.

Hier könnte die Geschichte tragisch enden. Für Jissachar tat sie das auch. Aber für die Weisen war es wichtig, ihren Punkt zu unterstreichen. So sprach Rabbi Aschi: »Wenn Jissachar die Mischna gelernt hätte, hätte er gewusst, dass Lämmer und Ziegen als gleichwertig anzusehen sind.«

Ravina fügt hinzu, dass Jissachar das gewusst hätte, wenn er nur die Tora gelernt hätte. So sagen die Unangepassten also: Derjenige, der im Tempel arbeitet, hätte es besser wissen müssen. Sein Wissen hätte ihm geholfen, seine Stellung allein jedoch nicht.

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025