»Zwischen Jerusalem und Rom«

Brüder und Partner

Die orthodoxen Rabbiner und Papst Franziskus am 31. August im Vatikan Foto: L’Osservatore Romano-S.F.V.

In der biblischen Schöpfungsgeschichte formt Gott einen einzelnen Menschen als den Stammvater der ganzen Menschheit. So ist es die unverwechselbare Botschaft der Bibel, dass alle Menschen Mitglieder einer einzigen Familie sind. Und nach der Sintflut von Noach wird diese Botschaft bekräftigt, indem die neue Phase der Geschichte wieder von einer einzigen Familie eröffnet wird. Am Anfang erstreckt sich Gottes Vorsehung auf eine universale, undifferenzierte Menschheit.

Als Gott Abraham und dann Isaak und Jakob erwählte, vertraute er ihnen eine doppelte Mission an: die Nation Israel zu gründen, die im heiligen, verheißenen Land Israel eine modellhafte Gesellschaft erben, niederlassen und schaffen würde, während sie als Quelle des Lichts für die ganze Menschheit dienen würde. Die doppelte Verpflichtung des jüdischen Volkes zu erfüllen – ein Licht für die Völker zu sein und die eigene Zukunft entgegen dem Hass und der Gewalt der Welt zu gewährleisten – war überwältigend schwer.

nostra aetate Vor 50 Jahren, 20 Jahre nach der Schoa, begann die katholische Kirche mit ihrer Erklärung Nostra Aetate einen Prozess der Selbstprüfung, der zunehmend dazu führte, dass die kirchliche Lehre von jeder Feindseligkeit gegenüber Juden bereinigt wurde, wodurch Vertrauen und Zuversicht zwischen unseren jeweiligen Glaubensgemeinschaften wachsen konnten. Wir zollen der Arbeit der Päpste, Kirchenleiter und Gelehrten Beifall, die leidenschaftlich zu diesen Entwicklungen beigetragen haben, darunter den entschlossenen Befürwortern des katholisch-jüdischen Dialogs am Ende des Zweiten Weltkrieges, deren gemeinsame Arbeit ein maßgeblicher Antrieb zu Nostra Aetate war.

Die wichtigsten Meilensteine waren das Zweite Vatikanische Konzil, die Gründung der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden, die Anerkennung des Judentums als lebendiger Religion mit einem ewigen Bund, die Anerkennung der Schoa und ihrer Vorläufer sowie die Schaffung diplomatischer Beziehungen mit dem Staat Israel. Die theologischen Schriften der Präsidenten der Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden haben viel zu den kirchlichen Dokumenten beigetragen, die Nostra Aetate folgten, wie es auch die Schriften zahlreicher anderer Theologen taten.

Trotz der unversöhnlichen theologischen Unterschiede sehen wir Juden Katholiken als unsere Partner, enge Verbündete, Freunde und Brüder in unserem gemeinsamen Streben nach einer besseren Welt, die mit Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit gesegnet ist.

Extremismus Wir verstehen unsere Mission, ein Licht für die Völker zu sein, als einen Beitrag zur Anerkennung der Heiligkeit, Moral und Frömmigkeit durch die Menschheit. In dem Maße, wie die westliche Welt immer säkularer wird, gibt sie viele moralische Werte auf, die Juden und Christen miteinander teilen. Die Religionsfreiheit wird dadurch zunehmend von den Kräften des Säkularismus und des religiösen Extremismus bedroht. Wir suchen daher die Partnerschaft der katholischen Gemeinschaft im Besonderen und anderer Glaubensgemeinschaften im Allgemeinen, um die Zukunft der Religionsfreiheit zu gewährleisten, die moralischen Prinzipien unseres Glaubens zu fördern, insbesondere die Heiligkeit des Lebens und die Bedeutung der traditionellen Familie sowie »das moralische und religiöse Gewissen der Gesellschaft zu pflegen«.

Als ein Volk, das unter Verfolgung und Völkermord im Laufe unserer Geschichte gelitten hat, sind wir uns alle nur allzu sehr der realen Gefahr bewusst, der viele Christen im Nahen Osten und anderswo ausgesetzt sind, die verfolgt und durch die Gewalt und den Tod durch die Hände jener bedroht werden, die den Namen Gottes vergeblich durch Gewalt und Terror anrufen. Wir fordern die Kirche auf, gemeinsam mit uns den Kampf gegen die neue Barbarei zu vertiefen, namentlich gegen die radikalen Ableger des Islams, die unsere globale Gesellschaft gefährden und die sehr große Zahl gemäßigter Muslime nicht verschonen. Dies bedroht den Frieden in der Welt im Allgemeinen und die christlichen und jüdischen Gemeinschaften im Besonderen.

Trotz tief greifender theologischer Unterschiede teilen Katholiken und Juden den Glauben an den göttlichen Ursprung der Tora und an eine endgültige Erlösung und nun auch an die Beteuerung, dass Religionen moralisches Verhalten und religiöse Erziehung einsetzen müssen, um Einfluss auszuüben und Inspiration zu geben, nicht Krieg, Zwang oder sozialen Druck.

Judenmission Normalerweise verzichten wir darauf, Erwartungen im Blick auf andere Glaubensgemeinschaften auszudrücken. Aber bestimmte Arten von Lehren verursachen wirkliches Leiden; jene christlichen Lehren, Rituale und Unterweisungen, die negative Haltungen gegenüber Juden und Judentum zum Ausdruck bringen, inspirieren und den Antisemitismus nähren.

Deshalb, und um die (...) als Resultat von Nostra Aetate gepflegten Gemeinsamkeiten zwischen Katholiken und Juden zu erweitern, rufen wir alle christlichen Konfessionen auf, die es noch nicht getan haben, dem Beispiel der katholischen Kirche zu folgen und den Antisemitismus aus ihrer Liturgie und ihren Lehren zu entfernen, die aktive Mission gegenüber Juden zu beenden und für eine bessere Welt Hand in Hand mit uns, dem jüdischen Volk, zu arbeiten.

Auszüge aus der Erklärung »Zwischen Jerusalem und Rom«, unterzeichnet von der Conference of European Rabbis (CER), dem Rabbinical Council of America (RCA) und dem Vorsitzenden der Kommission für interreligiöse Angelegenheiten des Oberrabbinats von Israel.

Geschichte eines Dokuments
Am 31. August empfing Papst Franziskus Vertreter der Conference of European Rabbis (CER), der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD), des Rabbinical Council of America (RCA) und des israelischen Oberrabbinats. Die orthodoxen Rabbiner überreichten dem Papst die Erklärung »Zwischen Jerusalem und Rom«. Rabbiner Pinchas Goldschmidt, Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, sprach im Anschluss von einem historischen Moment: »Die Zeit, in der sich die zwei Glaubensrichtungen im Krieg befanden, ist vorüber.« Der Frankfurter Rabbiner Avichai Apel, Vorstandsmitglied der ORD, sagte: »Die Veränderung der Einstellung der katholischen Kirche gegenüber dem Judentum ist ein positives Zeichen, auch wenn die Beziehungen weiterhin durch die zum Teil sehr leidvolle Geschichte der vergangenen 2000 Jahre geprägt bleiben. Aber wir erkennen die Zeichen für eine bessere Zukunft.«

Die Erklärung hat einen Vorläufer: Im Dezember 2015 veröffentlichten einzelne orthodoxe Rabbiner – wie David Rosen, Shlomo Riskin, David Bollag und Jehoschua Ahrens – einen Text als Antwort auf ein Dokument der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum (Anlass: 50 Jahre Nostra Aetate), das eine Absage an die institutionelle Judenmission enthielt. Die Rabbiner schrieben, das Christentum sei weder Zufall noch Irrtum, sondern von Gott gewollt und ein Geschenk an die Völker. Der Darmstädter Rabbiner Ahrens, Beauftragter für Interreligiösen Dialog des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, sagt, der ersten Erklärung hätten sich manche Rabbiner nicht angeschlossen, weil ihnen einige Äußerungen zum Christentum zu weit gingen: »Die Conference of European Rabbis wollte sich alternativ äußern, das israelische Oberrabbinat war lange sehr zurückhaltend, und die amerikanisch-orthodoxe Rabbinerkonferenz wollte keine Erklärung ohne das Oberrabbinat.« Nun zeige die Orthodoxie »das erste Mal weltweit als Gesamtes in einer Erklärung, dass der Dialog wichtig ist und dass Christen unsere Brüder und Partner sind.«

Wiens Oberrabbiner Arie Folger sagt, die Kirche schätze, »dass wir mit einem konservativen Dokument gekommen sind, weil wir die Masse orthodoxer Rabbiner vertreten«. Man habe versucht, ein Dokument zu schreiben, das »theologisch und historisch auf festem Boden steht«. Der Papst habe die Botschaft verstanden: Theologische Grenzen müssten akzeptiert werden. Dennoch begrüßten die Rabbiner, was im Zug von Nostra Aetate im Kampf gegen den Antisemitismus bewirkt wurde. Zusammenarbeit sei möglich und beiderseits erwünscht. ja/epd

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