Matot-Mass’ej

Blutrausch

Foto: Getty Images/iStockphoto

Wie geht man mit einem »unangenehmen« Text um? Einem, der unserem Verständnis von dem widerspricht, was die Tora ansonsten fordert. Unser Wochenabschnitt enthält Textpassagen, die über den Krieg gegen Midjan berichten und bereits die frühen jüdischen Kommentatoren irritierten. Da heißt es zum Beispiel: »Sie rückten mit dem Heereszug gegen Midjan, wie der Ewige dem Mosche geboten, und erschlugen alles Männliche« (4. Buch Mose 31,7).

Halachische Ausleger haben diesen Vers genutzt, um daraus ein Gesetz für den Krieg zu formulieren: Feindliche Truppen sollten nicht von allen vier, sondern nur von drei Seiten belagert werden. Man sollte ihnen einen Fluchtweg offen lassen. Dadurch würden sie nicht mit ganzer Kraft kämpfen, und die Verluste für die eigenen Streitkräfte würden minimiert, argumentierte Maimonides, der Rambam (Hilchot Melachim 6,7).

Weiter heißt es: »Die Kinder Israels führten die Frauen Midjans und ihre Kinder und all ihr Vieh gefangen fort und all ihre Herden; ihr Vermögen plünderten sie« (31,9). Mit einer Information aus Vers 49, »und von uns fehlt nicht einer«, wird das Bild klarer: Anscheinend sind einige der midjanitischen Kämpfer desertiert und haben Frauen und Kinder zurückgelassen. Dass keine israelitischen Kämpfer gefallen sind und sie Frauen und Kinder gefangen nahmen, spricht für diese Annahme.

Mosche ist nicht erfreut

Mosche ist nicht erfreut darüber, als er auf diejenigen trifft, die aus dem Kampf zurückkehren (14–15): »Da zürnte Mosche über die Vorgesetzten des Heeres, die Oberen über die Tausend und die Oberen über die Hundert, die vom Kriegszug kamen. Mosche sprach zu ihnen: Wie, ihr habt alle Frauen leben lassen?« Er betont, dass es gerade die Frauen gewesen seien, die Israel auf einen falschen Weg geführt hätten: »Sie haben die Kinder Israels auf den Rat Bileams verleitet zum Treuebruch am Ewigen wegen Peor, und es kam das Sterben über die Gemeinde des Ewigen.«

Dann folgt ein Befehl, der schwer nachzuvollziehen ist: »Und nun tötet alles Männliche unter den Kindern; auch jede Frau, die einen Mann erkannt hat durch Beischlaf, die tötet« (17). Die Tora schreibt nicht, ob dieser Befehl tatsächlich ausgeführt wurde. Denn immerhin bestand Midjan fort und war einige Zeit später mächtig genug, um den Kindern Israels zu schaden (Richter 6).

Direkt im Anschluss daran erkennt Mosche jedoch an, was es mit Menschen macht, wenn sie töten müssen. Und so werden sie in Vers 19 aufgefordert, Abstand davon zu nehmen und sich zu reinigen: »Ihr aber lagert außerhalb des Lagers sieben Tage, jeder, der einen Menschen erschlagen hat, und jeder, der einen Erschlagenen berührt hat; ihr sollt euch entsündigen am dritten und am siebten Tag, ihr und eure Gefangenen.« Der Zorn scheint abzuebben.

Die Schilderung in der Tora wird abrupt unterbrochen. Unvermittelt heißt es in Vers 21: »Und Eleasar, der Priester, sprach zu den Männern des Heeres, die zum Krieg kamen: Dies ist das Gesetz der Tora, dass der Ewige dem Mosche gebot.«

Im Midrasch Sifrej heißt es, dass es kein Zufall ist, dass die Tora an dieser Stelle erwähnt wird: »Sie wurde von Mosche, unserem Lehrer, vergessen. Weil er dem Zorn erlag, erlag er auch dem Vergessen.« Rabbi Elasar zufolge soll Mosche mehrere Male die Lehre der Tora vergessen haben und dem Zorn und dem Irrtum erlegen sein, unter anderem im 4. Buch Mose 31,14: »Da zürnte Mosche über die Vorgesetzten des Heeres, die Oberen über die Tausend und die Oberen über die Hundert, die aus dem Kriegszug kamen.«

Wer in Zorn gerät, den verlässt die Weisheit, wenn er ein Weiser ist. Wenn er ein Prophet ist, die Prophetie. (…) Wie das bei Mosche geschah ...

Der Talmud unterstreicht dies. So lesen wir im Traktat Pessachim: »Resch Lakisch sprach: Wer in Zorn gerät, den verlässt die Weisheit, wenn er ein Weiser ist. Wenn er ein Prophet ist, die Prophetie. (…) Wie das bei Mosche geschah, denn es heißt: ›Da zürnte Mosche über die Vorgesetzten des Heeres‹, und darauf folgt: ›Und Eleasar, der Priester, sprach zu den Männern des Heeres: Dies ist das Gesetz der Tora, dass der Ewige dem Mosche gebot‹ – demnach hatte Mosche es vergessen« (66b).

Wir sind also mit unserer Hilflosigkeit dem Text gegenüber nicht ganz allein. War es also gar nicht G’ttes Befehl, wirklich alle Midjaniter zu töten? Hat Mosche auch vergessen, dass seine Frau Zippora und Jitro, sein Schwiegervater, ebenfalls Midjaniter waren? Und so schreibt der Midrasch: »Weil Mosche in Midjan aufgewachsen war, sprach er: ›Es ist nicht recht, dass ich die unterdrücke, die mir Gutes getan haben.‹ Ein Sprichwort sagt: ›Wirf nicht einen Stein in eine Zisterne, aus der du Wasser getrunken hast‹« (Bamidbar Rabba 22,4).

Midjan gilt als Gegenbeispiel zu Israel: Unmoralische Anhänger des Götzendienstes – ein Werkzeug für Bileam, der die Töchter der Midjaniter dazu nutzte, die Israeliten auf den falschen Weg zu führen, und so letztendlich damit auch die Vernichtung des Volkes vorbereitet. Der Befehl zur aktiven Bekämpfung dieser Bedrohung wird anscheinend »pragmatisch« gehandhabt. Denn auch später ist Midjan wieder Gegenspieler Israels.

Hätte das durch unbarmherzigeres Vorgehen rechtzeitig vermieden werden können? Wir wissen es nicht. Doch die Tatsache, dass der Text uns heute irritiert, spricht dafür, dass wir die Werte der Tora verinnerlicht haben – seit Generationen.

Der Autor ist Blogger und lebt in Gelsenkirchen.

inhalt
Der Wochenabschnitt Paraschat Matot erzählt von Mosches letztem militärischen Unternehmen, dem Feldzug gegen die Midjaniter. Danach teilen die Israeliten die Beute auf und besiedeln das Land.
4. Buch Mose 30,2 – 32,42

»Reisen« ist die deutsche Übersetzung des Wochenabschnitts Mass’ej. Und so beginnt er auch mit einer Liste aller Stationen der Reise durch die Wildnis von Ägypten bis zum Jordan. Mosche sagt den Israeliten, sie müssten die Bewohner des Landes vertreiben und ihre Götzenbilder zerstören.
4. Buch Mose 33,1 – 36,13

Umfrage

Studie: Deutsche vertrauen Zentralrat der Juden signifikant mehr als der christlichen Kirche und dem Islam

Die Ergebnisse, die das Meinungsforschungsinstitutes Forsa im Auftrag des »Stern«, RTL und n-tv vorlegt, lassen aufhorchen

 23.12.2025

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025