Tatkraft

Blick fürs Konkrete

Frauen haben einen Sinn fürs Praktische. Foto: Thinkstock

Mosche hatte doch an alles gedacht – oder? Als er seinen Auftrag vom Ewigen erhielt, da hatte er Bedenken geäußert, wegen seiner »schweren Zunge«, wegen der Befürchtung, die Israeliten könnten ihm nicht glauben, dass er tatsächlich im Namen des Ewigen sein Volk in die Freiheit führen werde. Und alle möglichen anderen Vorwände hatte er auch noch vorgebracht – mit einem Wort: Er wollte nicht. Sicher, das war ein schwieriger Auftrag, den ihm der Ewige da gab; aber der Auftrag war so wichtig, und der Ewige hatte Mosche doch Seine Hilfe zugesagt ...

Schließlich ging Mosche, und er nahm seine Familie mit. Und da begab es sich, als sie unterwegs übernachteten, dass etwas passierte, was das Leben des Mosche bedrohte. Ob es nun der Ewige selbst war oder der Todesengel oder gar ein Dämon, wie der Midrasch es beschreibt – wer immer es war, was immer es war: Es war lebensgefährlich, und es bedrohte den ganzen großen Auftrag Mosches. Und es war nicht Mosche, sondern es war Zippora, seine Frau, die es abwehrte, nämlich mit der Beschneidung ihres jüngsten Sohnes, beherzt und ohne weiteres Nachfragen, ob sie – noch dazu als Frau – das denn überhaupt dürfe.

auftrag Mosche hatte offenbar einen guten Grund, mit der Übernahme des großen Auftrags vom Ewigen zu zögern: die Geburt eines Sohnes. Aber das bringt er gar nicht erst zur Sprache. Alle möglichen Ausreden fallen ihm ein, warum er diesen Auftrag nicht ausführen könne.

Tatsächlich war es aber vielleicht doch ein sehr persönlicher, und dabei ein sehr menschlicher Grund, warum er in Midian bleiben wollte. Nur, Mosche sagt es nicht. Der Ewige weiß es trotzdem, und Er weiß auch, warum: Mosche vertraut Ihm offenbar nicht voll und ganz. Warum sonst sollte Mosche die anstehende Beschneidung seines Sohnes verschieben, wenn nicht aus fehlendem Vertrauen, dass sich der Ewige auch darum kümmern werde, dass es Mosches Familie gut gehen wird? Oder meinte Mosche etwa, das sei seine Privatangelegenheit und nicht wichtig genug in den Augen des Ewigen? Der große Auftrag – aber was ist mit der Familie? Was ist mit dem ganz Persönlichen?

Mosche stellt seine Familie und damit auch seine eigenen Bedürfnisse hinter den großen Auftrag zurück. Und ist der denn nicht auch viel wichtiger als alles Persönliche? Nein, er ist es nicht. Über seiner großen, nationalen Mission darf Mosche nicht seine ganz private Verantwortung, seine Pflichten als Familienvater, vergessen. Doch genau das tut er. Und nun ist es Zippora, seine Frau, die die Initiative ergreift und das Notwendige tut: Sie beschneidet den Sohn.

Pflichten Alle späteren Beschreibungen, es könne gar nicht so gewesen sein, eine Frau könne die Beschneidung gar nicht durchgeführt haben, wirken in der Begründung fadenscheinig. Sie sollen zudem verschleiern, dass Mosche – der große Mosche, Anführer des Volkes – in seiner Eigenschaft als Familienvater versagt hat. Das große Ziel vor Augen, hat er das kleinere, vermeintlich nebensächliche Ziel vernachlässigt. Die große Politik hat ihn mehr beschäftigt als seine alltäglichen familiären Pflichten.

Es ist seine Frau, die die drohende Gefahr, den dringenden Handlungsbedarf, erkennt und entsprechend eingreift – so wie sich Schifra und Pua, die beiden Hebammen, beherzt dem Befehl des Pharao widersetzen und zahlreichen Kindern das Leben retten. So wie Jocheved den kleinen Mosche im Binsenkörbchen aussetzt und wie seine Schwester Mirjam beobachtet, was aus dem Baby wird. So wie die Tochter des Pharao den kleinen Mosche aus dem Wasser errettet und ihm nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Lebensberechtigung gibt.

Es sind hier die Frauen, welche die unmittelbar notwendigen Dinge erkennen und sich darum kümmern, während die Männer große Politik machen. So wird es auch später sein, zu den Zeiten, als die Makkabäer draußen in epischen Schlachten kämpfen, während daheim die Mütter im Wochenbett ihr Leben aufs Spiel setzen, um die jüdischen Grundwerte zu bewahren, mit Aufrechterhaltung der Brit Mila. Und auch noch viel später, in der Sowjetunion, als Hebammen und OP-Schwestern auf Wunsch von jüdischen Müttern bei deren Neugeborenen die Brit Mila durchführen, um das Judentum am Leben zu erhalten, wo es die Männer aufgrund von politischen Restriktionen nicht tun.

Alltag Das große Ganze ist wichtig, ohne Frage. Aber genauso wichtig sind die kleinen Dinge des Alltags, und oft genug sind sie genauso schwierig zu bewältigen wie die großen Herausforderungen des Lebens. Machen wir uns bewusst, dass schon ein kleines Detail einen großen Plan zum Scheitern bringen kann, wie in dem berühmten Gedicht vom verlorenen Hufeisen, durch das ein ganzer Krieg verloren ging, oder in der Geschichte vom fehlenden Dachziegel, der die Zerstörung des gesamten Hauses nach sich zog.

Schauen wir nicht stolz herab auf diejenigen, die sich mit den vermeintlich unbedeutenden Angelegenheiten befassen und die infolgedessen, falls überhaupt, nur am Rande erwähnt werden. Nicht von ungefähr fragt Brechts »Lesender Arbeiter«: »Cäsar schlug die Gallier. Hatte er wenigstens einen Koch bei sich?«

Lernen wir von Mosche und Zippora: Nur wer die vermeintlichen Kleinigkeiten im Alltag, im Umgang mit der Familie, mit Kollegen, Nachbarn und Freunden ebenso beachtet wie den großen Plan des Lebens, der erfüllt den Willen des Ewigen ganz. Und: Diesen Willen können auch diejenigen erfüllen, die in den Augen der anderen als gering, ja, als nachrangig betrachtet werden – vielleicht tun es gerade diejenigen besser als die großen Anführer, weil sie deutlicher achthaben auch auf diese nur scheinbar kleinen, aber dennoch wichtigen Aspekte des Lebens; weil sie die profan anmutenden und doch notwendigen Dinge nicht gering schätzen, sondern zur richtigen Zeit das Richtige tun.

Die Autorin ist Rabbinerin der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Schemot erzählt von einem neuen Pharao, der die Kinder Israels versklavt. Er ordnet an, alle männlichen Erstgeborenen der Hebräer zu töten. Eine Frau aus dem Stamm Levi will ihren Sohn retten und setzt ihn in einem Körbchen auf dem Nil aus. Pharaos Tochter findet das Kind, adoptiert es und gibt ihm den Namen Mosche. Der Junge wächst im Haus des Pharao auf. Erwachsen geworden, erschlägt Mosche im Eifer einen Ägypter und muss fliehen. Er kommt nach Midian und heiratet dort die Tochter des Priesters Jithro. Der Ewige spricht zu Mosche aus einem brennenden Dornbusch und beauftragt ihn, zum Pharao zu gehen und die Kinder Israels aus Ägypten hinauszuführen.
2. Buch Mose 1,1 – 6,1

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024