Neulich beim Kiddusch

Beten mit Espresso

Eine Tasse genügt: mit Koffein zum Superbeter Foto: JA

Ganz unter uns: Ich leide an ADHS, also unter Aufmerksamkeitsdefiziten. Wenn meine Frau zum Beispiel mit mir streitet, höre ich nur mit dem halben Ohr zu. Oder wenn die Mutter eines Schülers bei mir anruft und darüber diskutieren möchte, warum Janki die Strafaufgabe unmöglich bis morgen schreiben kann, dann sage ich einfach: »Ja, okay« und hänge auf.

Sogar als ich heiratete, konnte ich mich bei der Zeremonie nicht richtig konzentrieren. Der Rabbi sprach über die Wichtigkeit von irgendetwas, aber ich guckte immer nur die brennende Kerze an, die meine Mutter in den Händen hielt. Sie tropfte. Ein Tropfen, zwei Tropfen, der schöne Parkettboden war übersät mit Wachsflecken. Und der Rabbi redete und redete.

Ehestunden Eine Qual sind für mich auch die langen Gebete am Schabbatmorgen. Nach zehn Minuten bin ich eigentlich schon fertig mit meiner Zwiesprache mit Gott. Ich flehe ihn an um Reichtum, gescheite Kinder, schöne Ehestunden und um Weltfrieden. Nachher ist mir langweilig. Ich betrachte die maurischen Ornamente der Synagoge und versuche sämtliche Kreise an der Ostseite zu zählen. Wenn ich fertig bin, bete ich nochmals um schöne Ehestunden. Dann gerate ich in ein Loch.

Doch letzten Schabbes habe ich endlich Abwechslung gefunden, die mir Kraft für zwei weitere Betstunden gibt. Als der Vorbeter mit der Lesung der Haftara begann, schlich ich mich nach draußen. Mir war so langweilig, darum ging ich in den Keller der Synagoge. Der ist seltsamerweise immer offen. Ich tastete mich vor und erblickte den Werkraum unseres Synagogendieners. »Mal was anderes«, dachte ich mir und begann die Werkzeuge zu zählen. Ich öffnete eine Nebentür und stand vor einer Kaffeemaschine. Toll! Ich goss mir einen extra starken Espresso ein und trank ihn genüsslich. Das tat gut. Ich genehmigte mir einen zweiten und schüttete fünfmal Zucker in die schwarze Brühe. Das wirkte wie ein Energiedrink.

Glaubenssätze Ich rannte wieder hoch in die Synagoge und nahm erregt den Siddur zur Hand. Ich holte die Gebete nach, die ich verpasst hatte und las außerdem die Zehn Gebote und die Dreizehn Glaubenssätze des Rambam nach. Die habe ich schon seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gebetet. Das Koffein machte aus mir einen Superbeter. Die Konzentrationsschwäche war dahin. Ich betete für mich, die Frau, Kinder, meine Schüler, deren Mütter und Väter. Ein Spezialgebet erhielten auch die Kaffeemaschine und der Synagogendiener.

Mit ihm schloss ich nach Schabbatausgang einen Deal: Zehn Euro pro Monat für kostenlose Benutzung seiner Kaffeemaschine. Außerdem erzählt er niemandem von der Sünde, dass ich am Ruhetag die Maschine benutze.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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