Leben

Auf den Weg gebracht

Wichtig ist, dass man losgeht. Foto: imago

Wo finden wir Menschen, die ein gutes Leben führen? Gibt es so etwas überhaupt: ein gutes oder erfolgreich gelebtes Leben? Vielleicht ein Leben voller Reichtum? Sehen wir doch einmal in die Tora. In unserem Wochenabschnitt lesen wir über den Tod von Mosche, dem großen Lehrer des jüdischen Volkes. Es ist naheliegend, dass uns die Tora, wenn sie über diese große Persönlichkeit spricht, einen Hinweis auf ein erfolgreich gelebtes Leben geben müsste. Schließlich wird Mosche oft als Rabenu, unser Lehrer, bezeichnet. Wer, wenn nicht er, sollte am besten wissen, wie man sein Leben gut führt?

Verwehrt Kurz bevor Mosche stirbt, erblickt er in der Ferne das Heilige Land. G’tt spricht zu ihm: »Ich habe es dich schauen lassen mit deinen Augen, aber dort hinüber sollst du nicht kommen« (5. Buch Mose 34,4). Wie kann G’tt Mosche dies antun – ihn nicht nach Eretz Israel zu lassen? Mosche hat sein Leben als Prinz im Palast des Pharao aufgegeben, er ist ins Exil gegangen, um dort G’tt zu dienen, er verbrachte die meiste Zeit seines Lebens damit, sich um das jüdische Volk und die Lehre des Ewigen zu kümmern. 40 Jahre lang hat er das Volk durch die Wüste geführt – und nun wird ihm das Recht verweigert, sein Lebenswerk abzuschließen und das Volk ins Gelobte Land zu führen?

Wenn wir in die Tora schauen, finden wir die folgenden Worte, die G’tt an Mosche und Aharon richtet: »Weil ihr nicht an mich geglaubt habt, darum sollt ihr diese Volksschar nicht in das Land bringen, das ich ihnen gebe« (4. Buch Mose 20,12). Hintergrund dieser schwierigen Stelle ist folgender: Nachdem Mosches Schwester Mirjam gestorben war, verschwanden auch die Wasserquellen. Es war nämlich ihr Verdienst, dass G’tt dem Volk die Wasserquellen gegeben hatte.

Nun gab es also kein Wasser mehr für das Volk. G’tt befahl Mosche, aus einem Felsen Wasser hervorzubringen. Doch Mosche verstand nicht, dass er mit dem Felsen sprechen sollte, sondern schlug mit seinem Stab auf ihn. Damit zeigte er, dass er G’tt nicht voll vertraute und wurde damit bestraft, das Heilige Land nicht zu betreten. Wir fragen uns, warum es Mosche wegen dieses einen Vergehens verwehrt wurde, sein Lebenswerk zu vollenden.

Wie verstehen wir den Sinn des Lebens, und warum hat G’tt uns in diese Welt geschickt? In der Mischna steht: »Zwar ist es nicht deine Sache, die Arbeit zu vollenden, doch darfst du dich ihrer auch nicht einfach entledigen« (Pirkej Awot 2,21).

Diese Mischna versucht, sich an den Sinn des Lebens heranzutasten. Um sie zu erklären, bringt Rabbiner Jonathan Eibeschütz (1690–1764) ein Gleichnis: Ein Mann gibt einem Handwerker den Auftrag, ihm einen Gegenstand anzufertigen. Wenn der Handwerker es nicht schafft, gilt der Auftrag als unerledigt, und der Handwerker bekommt kein Geld. In einem anderen Fall wollte der Auftraggeber nur sehen, ob der Handwerker bereit sei, einem Auftrag nachzugehen. Möglicherweise wusste der Auftraggeber: Wenn der Handwerker sich mit dem Auftrag beschäftigt, dann sind verschiedene Vorarbeiten nötig. Um die Produkte eben dieser Vorarbeiten ging es dem Auftraggeber. Und auch, wenn der Handwerker es nicht schaffen sollte, den Auftrag bis zu Ende auszuführen, wird er dennoch bezahlt, denn er hat getan, was von ihm verlangt wurde.

Hürden Die Mischna sagt über unser Dasein in dieser Welt: G’tt stellt uns vor verschiedene Aufgaben. Um ihnen gerecht zu werden, müssen wir uns anstrengen und manche Hürde überwinden. Wir wissen nicht, welche Aufgaben uns G’tt gestellt hat, damit wir sie vollenden und welche Aufgaben nur Mittel zum Zweck sind, um diverse Nebenprodukte zu erhalten. So können wir auf Mosches Leben schließen: Seine Aufgabe war es, das Volk bei der Wanderung durch die Wüste zu begleiten und es ins Gelobte Land zu führen. Doch die Vollendung lag nicht in seinen Händen – G’tt verwehrte es ihm, Eretz Israel zu betreten.

Kommen wir zurück zu der Frage, was ein gutes Leben ist und was uns ein Gefühl von Zufriedenheit gibt. Ist es Reichtum? In der Tat sind die Begriffe »Glück« und »Reichtum« im Hebräischen einander sehr ähnlich. Beide werden »Oscher« gelesen – nur die Anfangsbuchstaben sind verschieden. Das Wort für »Glück« wird mit Alef geschrieben, der Begriff für »Reichtum« mit »Ajin«.

Oft begegnen uns wohlhabende Menschen, die mit ihrem Leben nicht zufrieden sind. Oder sie finden, dass sie mehr Geld bräuchten. Wir wissen, dass mit wachsenden Möglichkeiten auch die Bedürfnisse größer werden. Die Mischna lehrt uns: »Wer ist reich? Der mit seinem Teil zufrieden ist« (Pirkej Awot 4,1). Natürlich kann man den Reichtum eines Menschen objektiv messen. So eine Messung würde vom materiellen Besitz abhängen. Doch fühlt sich ein Mensch mit höherem Kontostand automatisch reicher oder glücklicher? Die Mischna lehrt uns, dass es vom Grad unserer Zufriedenheit abhängt, ob wir uns reich und glücklich fühlen.

Wasserträger Ein Gleichnis kann dies illustrieren: Am frühen Morgen, noch kurz vor Sonnenaufgang, ist im Schtetl der Wasserträger längst auf den Beinen. Er sieht traurig und bedrückt aus. Man fragt ihn, wie es ihm gehe und warum er denn so traurig sei. Er antwortet, dass er das schlechteste Los des ganzen Schtetls gezogen habe. Er müsse früher als alle anderen aufstehen und all die schweren Behälter mit Wasser austragen. Wenn er damit fertig ist, komme er ganz müde nach Hause, und auch dort warte viel Arbeit auf ihn. Viele Menschen wüssten nicht einmal zu schätzen, was für eine wichtige Arbeit er für sie leiste.

Am nächsten Tag ist der Wasserträger wieder früh unterwegs – aber diesmal ganz glücklich und zufrieden. Man fragt ihn, wie es ihm gehe. Er antwortet, er habe die beste Arbeit im ganzen Schtetl. Er darf den Tag früher als alle anderen erblicken und freue sich, die Menschen mit Wasser zu versorgen. »Viele schätzen meine Arbeit und bedanken sich«, sagt er. »Wenn ich nach Hause komme, bin ich erfüllt und voller Kraft, mein Tagwerk zu verrichten.«

Was ist geschehen? Wie kommt es, dass der Mann plötzlich so gut gelaunt ist und zufrieden auf sein Leben blickt? Die Antwort ist naheliegend: Es geht um seine Einstellung. Ganz im Sinne der oben erwähnten Mischna. Jeder kann in seinem Leben positive oder negative Seiten hervorheben. Rabbiner Moses Chaim Luzzatto (1707–1746) schreibt, dass jeder Mensch G’tt dankbar sein muss. Sogar ein Kranker sollte dafür danken, dass er nicht noch kränker ist; und ein Armer, dass er nicht noch ärmer ist.

Jeder Mensch erhält Mittel, um die Aufgaben anzupacken, die ihm G’tt aufgetragen hat. Was wir davon in unserem Leben schaffen, ist das, was von uns erwartet wird. Lassen Sie uns den Wochenabschnitt lesen und hoffen, dass wir auf den Wegen Mosches, unseres Lehrers, gehen und die Aufgaben, vor die uns G’tt stellt, meistern werden.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin und an der Fachhochschule Erfurt.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Ha’asinu gibt zum Großteil das »Lied Mosches« wieder. Es erzählt von der Macht G’ttes und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteil werden ließ, aber auch an die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. G’tt spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Nebo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen. Betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52

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