Talmudisches

Arbeit als guter Lebenswandel

Manche Gelehrte verstehen »Derech Eretz« nicht im klassischen Sinn als ethisches Verhalten, sondern als Arbeit. Foto: Getty Images

Die Mischna im Traktat Avot (2,2) lehrt: »Schön ist das Torastudium, wenn es mit Derech Eretz verbunden wird, denn die auf beides gewandte Mühe lässt die Sünde vergessen.«

Was ist »Derech Eretz« (wörtlich: der »Weg des Landes«)? Dazu gibt es verschiedene Meinungen, die über die Jahrhunderte von den Rabbinern geäußert wurden. Die Meinungen bezüglich der Begriffserklärung können uns die Facetten der oben genannten Mischna zeigen und sind beispielhaft für die Tiefe in den Worten unserer Weisen.

Die erste Quelle, die den Begriff »Derech Eretz« erklären könnte, ist der Midrasch Wajikra Rabba (9,3). Dort trifft ein Rabbi auf einen gut gekleideten Mann und lädt ihn zu sich nach Hause ein, weil er denkt, der Mann sei ebenfalls ein Gelehrter. Doch es stellt sich heraus, dass der Mann keinerlei religiöses Wissen hat. Der Rabbi ist enttäuscht und erlaubt sich eine Beleidigung in Richtung des gut gekleideten Mannes.

Der Mann sagt daraufhin: »Immer, wenn ich ein böses Wort über mich gehört habe, habe ich als Antwort geschwiegen! Ich habe noch nie zwei Leute streiten sehen und nicht versucht, zwischen ihnen Frieden zu stiften, und du beleidigst mich!?« Der Rabbi bittet um Entschuldigung dafür, dass er nicht gesehen hat, wie viel Derech Eretz der Mann doch hat. Daraufhin bringt der Talmud ein Zitat von Rabbi Jisch­mael: »Derech Eretz existierte schon 26 Generationen vor der Tora.«

Im Jiddischen versteht man unter »Derech Eretz«: »A Mentsch sajn«

Der Begriff »Derech Eretz« wird hier als gutes, moralisches, empathisches Verhalten verstanden. Im Jiddischen würde man sagen »A Mentsch sajn«.
Von Adam bis Noach waren es zehn Generationen, von Noach bis Awraham zehn und von Awraham bis Mosche sechs Generationen.

Dementsprechend lehrt uns Rabbi Jischmael im Anschluss an diese Geschichte, dass die Menschlichkeit – obwohl die Tora erst ab Mosches Zeit existiert – als Grundlage des Handelns bereits ab dem ersten Moment der Menschheit wichtig war.

Wenn wir also, wie der Midrasch, »Derech Eretz« als gutes Verhalten verstehen, kann die Mischna wie folgt gelesen werden: »Schön ist das Torastudium, wenn es mit gutem Verhalten verbunden wird.«

Raschi (1040–1105) und auch Maimonides, der Rambam (1138–1204), verstehen den Begriff »Derech Eretz« im Kontext der oben genannten Mischna als Arbeit. Wer die Tora studiert, aber nebenbei arbeitet, hat einen Lebensstil, der die Sünden vergessen lässt. Der Rambam erklärt: »Man wird zum Räuber und Dieb wegen der Armut.«

Die Tora möchte einen Menschen mit schlechter Moral umerziehen

Wieso verstehen sowohl Raschi als auch der Rambam in diesem Fall den Begriff »Derech Eretz« nicht im klassischen Sinn als ethisches Verhalten, sondern als Arbeit? Der offensichtliche Grund ist, dass die Mischna direkt im Anschluss sagt: »Und jede Tora ohne Arbeit wird am Ende nichtig werden und zur Sünde führen.« Der Begriff »Derech Eretz« wird also in einen Kontext mit dem Begriff der Arbeit gestellt und könnte als Synonym für Arbeit verstanden werden.

Weitere Gründe könnten sein, dass die Tora einen Menschen mit schlechter Moral umerziehen möchte. Man kann also nicht sagen, dass das gute Verhalten eine Voraussetzung dafür ist, dass das Torastudium die Sünde vergessen lässt.

Es muss sich also bei »Derech Eretz« um etwas handeln, das trotz des Torastudiums, falls es nicht mit dem Studium kombiniert wird, zur Sünde führt. Man kann davon ausgehen, dass es sich hierbei um Arbeitslosigkeit handelt, da der Mittellose, auch wenn er Tora lernt, leichter zum Diebstahl verführt werden kann. Die Mischna spricht auch von der »aufgewendeten Mühe«, was impliziert, dass »Derech Eretz« durch Mühe erreicht wird. Dies ist ebenfalls ein Indikator dafür, dass der Begriff die Arbeit meint.

Weitere Kommentatoren verstehen unter »Derech Eretz« das Wissen über die Naturgesetze, das Gebet oder Allgemeinbildung.
All diese verschiedenen Meinungen be­reichern unser Verständnis von der Mischna und das Wissen darüber, worauf es neben dem Toralernen im Leben noch ankommt.

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Potsdam/Berlin

Neue Stiftung für Ausbildung von Rabbinern nimmt Arbeit auf

Zentralratspräsident Schuster: »Die neue Ausbildung öffnet wichtige internationale Horizonte und Netzwerke innerhalb des liberalen und konservativen Judentums«

von Yvonne Jennerjahn  06.09.2024 Aktualisiert

Schoftim

Das Wort braucht auch die Tat

Warum Gerechtigkeit mehr als nur leeres Gerede sein sollte

von Rabbiner Alexander Nachama  06.09.2024

Talmudisches

Bedürfnisse der Bedürftigen

Was unsere Weisen über zinslose Darlehen lehrten

von Yizhak Ahren  06.09.2024

Sanhedrin

Höher als der König

Einst entschieden 71 Gelehrte über die wichtigsten Rechtsfragen des Judentums. Jeder Versuch, dieses oberste Gericht wiederaufzubauen, führte zu heftigem Streit – und scheiterte

von Rabbiner Dovid Gernetz  06.09.2024

München

Rabbiner offerieren »Gemeindepaket«

Mit besonders auf kleine Gemeinden abgestimmten Dienstleistungen will die Europäische Rabbinerkonferenz halachische Standards aufrechterhalten

 05.09.2024

Re’eh

Der Weg ist das Ziel

Warum man sich nie unvorbereitet auf die Suche nach Verborgenem machen sollte

von Vyacheslav Dobrovych  30.08.2024

Talmudisches

Essen übrig lassen

Was unsere Weisen über den Umgang mit Wirten lehrten

von Rabbiner Avraham Radbil  30.08.2024

Revolutionäre Rabbiner

»Prüfe die Dinge, und du wirst sie erkennen«

Die Schriften von Rabbiner Menachem Meiri zeigen, dass Juden bereits im Mittelalter das Verhältnis zu ihren nichtjüdischen Nachbarn neu definierten

von Sophie Bigot Goldblum  28.08.2024