Halacha

Alles oder nichts?

Der Weg ist das Ziel - auch beim Roulette. Foto: Getty Images/iStockphoto

Kennen Sie das Alles-oder-nichts-Prinzip? Wahrscheinlich schon. Etwa aus den Naturwissenschaften. Oder aus Spielshows, in denen es für den Kandidaten letztlich um Gewinn oder Pleite geht. Um alles oder nichts.

Gelegentlich jedoch taucht dieses Prinzip auch dort auf, wo es eigentlich überhaupt nichts zu suchen hat. Wie etwa im Judentum. Einer, der meinte, Grundzüge dieses Prinzips in der Tora zu erkennen, war der mittelalterliche Rabbiner Chajim Ibn Attar. Er verwies auf einen Vers in der Tora, in dem es heißt: »Ihr sollt das ganze Gebot tun, auf das ich euch heute verpflichte, damit ihr lebt …« (5. Buch Mose 8,1).

Hier sei seltsamerweise nicht von Geboten in der Mehrzahl die Rede, sondern von dem ganzen Gebot. Das bedeute, so Ibn Attar, dass jedes einzelne Gesetz mit all den anderen Gesetzen der Tora unauflöslich verbunden sei.

SUPERMARKT Sprich: Das jüdische Gesetz ist kein Supermarkt, wo man sich das heraussuchen kann, das einem gerade passt. Und wo man nur so viel mitnimmt, wie man möchte. Sondern es ist ein Komplex von Vorschriften, die voneinander abhängig und miteinander verschränkt sind. Diese Idee ruht auf rabbinischen Kommentaren, welche die Gesamtheit der Toragebote mit dem menschlichen Körper vergleichen (Babylonischer Talmud Makkot 23b, Targum Jonathan zum 1. Buch Mose 1,27).

Was dieser Vergleich soll? Ganz einfach: Ein kluger und vernünftiger Mensch, der daran interessiert ist, dass er gesund bleibt, wird auf seinen ganzen Körper achten. Er würde nicht auf die Idee kommen, sich zwar regelmäßig die Hände zu waschen, um sich vor Infektionen zu schützen, und gleichzeitig schrecklich ungesund essen, was wiederum seiner Gesundheit schadet. Im Idealfall würde man sich um jede Faser seines Körpers gleichermaßen kümmern, um rundum gesund zu bleiben.

Manche Juden halten nur sich selbst für wahrhaft toratreu, während andere nicht gut genug seien.

Ebenso verhalte es sich mit den Gesetzen der Tora. Diese müssten als Gesamtheit behandelt und beachtet werden. Andernfalls riskiere man, Schaden zu nehmen. Aus solchen Vorstellungen entwickelte sich mitunter eine eigene, abgedrehte Logik. Und diese besagt Folgendes: wenn schon jüdisches Gesetz, dann bitte in seiner Gesamtheit. In Quantität und Qualität. Und ohne Kompromisse. Denn nur so erlange man wahlweise G’ttes Gunst, Erlösung oder einen Premiumplatz in der kommenden Welt.

Wer das nicht wolle oder nur ausgewählte Vorschriften erfülle oder die Gesetze nicht richtig halte, der sei nicht Teil des heiligen Top-Teams. Sondern wahlweise ein schlechter oder ein vom Weg abgekommener Jude. So oder so ähnlich. Wobei es ziemlich viele Variationen dieser selbstgerechten Erzählung gibt.

FÜRSORGE Tatsächlich schießen solche Vorstellungen allerdings weit übers Ziel hinaus und beruhen mitunter auch auf völlig falschen Prämissen! Rabbiner Shlomo Riskin etwa greift den Vergleich von dem einheitlichen Gesetzeskomplex und dem menschlichen Körper auf, kommt aber zu völlig anderen Schlüssen.

Denn natürlich wäre es sinnvoll, sich um den ganzen Körper zu kümmern. Aber wir Menschen sind nur selten so diszi­pliniert und widerspruchsfrei. Und wenn dann tatsächlich ein oder mehrere Organe Schaden genommen hätten, wäre es doch töricht, sich nicht mehr um den Rest des Körpers zu kümmern.

Will heißen: Nur weil man sich durch Unachtsamkeit einen Virus eingefangen hat, heißt das doch nicht, dass die übrige Gesundheitsfürsorge oder eine gesunde Ernährung dadurch sinnlos würden. Ganz im Gegenteil! Sie sind von diesem Moment an umso wichtiger!

HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT Der amerikanische Autor Dennis Prager bringt ein zeitgemäßes Beispiel, das zeigt, wie absurd das Alles-oder-nichts-Prinzip im nichtreligiösen Alltag werden kann. So könne keiner, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr leicht überschreite, ernsthaft glauben, dass es nun völlig egal sei, wie schnell man fahre, da man ja ohnehin schon gegen die Verkehrsordnung verstoßen habe.

Mit anderen Worten: Wenn man die zulässige Höchstgeschwindigkeit nun schon einmal überschritten hat, spielt es auch keine Rolle mehr, ob man zehn oder 100 Kilometer pro Stunde zu schnell fährt, oder?

Unsinn! Natürlich spielt es eine Rolle! Und natürlich kommt es auf den Grad der Überschreitung an. Und natürlich bedeutet eine leichte Überschreitung keinen bedingungslosen Freifahrtschein. Niemand mit gesundem Menschenverstand würde solch ein Prinzip im Alltag anwenden wollen.

Andere meinen: Wenn kleine Schritte nicht ausreichen – wozu überhaupt anfangen?

Weshalb aber soll es dann im Judentum gelten? Haben die Befürworter solch eine verquere Sicht auf die Dinge? Oder fehlt ihnen tatsächlich der gesunde Menschenverstand? Einigen ganz bestimmt. Aber es gibt durchaus auch noch andere Erklärungen für dieses Phänomen. Denn es gibt Juden unterschiedlicher Provenienz, die ganz unterschiedliche Interessen und Motive haben, dem Alles-oder-nichts-Prinzip zu huldigen.

anforderungen Manche besonders fromme Juden etwa betonen das Prinzip, um sich selbst von all jenen abzuheben, die nicht ganz so fromm und gesetzestreu sind. Von ihrer Warte aus fällt es nämlich leicht, nur sich selbst und die Ihren als wahrhaft tora­treue Juden zu betrachten, während die anderen an den vermeintlichen Anforderungen des Ewigen scheitern.

Sprich: Nur sie selbst und ihre Mitstreiter bilden die kleine und exklusive Gruppe wahrhaft g’ttesfürchtiger Menschen, die den anderen im Rennen um das g’ttliche Heil uneinholbar davongeeilt sind.

Auf der anderen Seite finden sich Juden, denen die Vorstellung eines solchen Judentums eine willkommene Ausrede bietet, sich gar nicht erst ernsthaft damit beschäftigen zu müssen. Denn wenn kleine Schritte nicht zum Ziel führen, dann brauche man doch gar nicht erst anzufangen.

Und wenn die Latte so hochgelegt wird, dass nur ein vollständiges und bedingungsloses Eintauchen in die Welt jüdischer Gesetze zum Ziel führt, dann winken viele ohne Zögern ab.

Wobei: Nur weil das Alles-oder-nichts-Prinzip manchen Artgenossen gut in den Kram passt, heißt das ja noch lange nicht, dass es im Judentum auch wirklich gilt! Hier ist vielmehr der Wunsch oder die eigene Agenda Vater des Gedankens. Dabei richtet diese Idee unermesslichen Schaden an.

GIPFELSTÜRMER Denn das Judentum erscheint dadurch wie ein kaum zu erklimmender Berg, auf dessen Spitze sich ein paar einsame Gipfelstürmer sonnen, während die große Mehrzahl der Amateur-Bergsteiger den Aufstieg erst gar nicht beginnt.

Manche aus Angst, an der Aufgabe zu scheitern, manche, weil sie nicht so werden wollen wie die selbstgerechten Gipfelstürmer, und manche, weil sie dadurch eine gute Ausrede haben, sich der Mühe des Aufstiegs entziehen zu können.

Dabei hat schon der wohl größte Religionsphilosoph Maimonides unmissverständlich klar gemacht, dass bereits die richtige Erfüllung eines einzigen Gebotes ausreiche, um sich die kommende Welt zu verdienen. Wobei die richtige Erfüllung gar nicht so einfach zu bewerkstelligen ist. Aber der Gedanke zählt. Und im Buch Kohelet heißt es, dass kein Mensch so rechtschaffen ist, dass er nur Gutes tue und nie sündige (7,20).

Halacha bedeutet »gehen«: Der Weg ist das Ziel.

Die Welt ist voll von Menschen, die auf ihrem Weg Fehler machen, die straucheln oder scheitern. Die inkonsequent, inkonsistent oder widersprüchlich sind. Doch das entbindet sie nicht von ihrer Aufgabe. Keineswegs.

Freilich, das Judentum ist ein komplexes System, das dem Menschen einiges abverlangt. Es ist ein Lebensweg, der nicht ohne Mühe beschritten werden kann. Es verlangt Einsatz, Bekenntnis und Verpflichtung, fordert Lernen, Wissen und aktives Tun. Aber das Ergebnis ist es in jedem Fall wert.

PROZESS Dabei führt der jüdische Weg über Gesetze, Vorschriften, Traditionen. Und es ist kein Zufall, dass das jüdische Religionsgesetz »Halacha« heißt, also übersetzt »Gehen«. Und damit ist eigentlich auch schon alles gesagt.

Denn es geht hier nicht um ein klar definiertes Ziel. Um eine Latte, die so hoch hängt, dass sie unerreichbar wäre. Um alles oder nichts. Es geht um das Gehen, die Vorwärtsbewegung, das Voranschreiten. Es geht um die Richtung, in die man sich entwickelt, und um den Prozess, in dem man sich befindet. Es geht um das Beschreiten des Weges als solchem. Denn der Weg ist das Ziel. Das ist zwar eine konfuzianische Weisheit, aber richtig ist sie in diesem Fall trotzdem.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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