Talmudisches

Alles nur zum Guten

Wie Rabbi Abbahus Sohn Avimi auf einen originellen Gedanken kam

von Vyacheslav Dobrovych  22.11.2019 11:06 Uhr

Ins Licht gerückt: Alles ist ein Ausdruck g’ttlicher Güte – unabhängig davon, ob diese gerade erkennbar ist oder nicht.

Wie Rabbi Abbahus Sohn Avimi auf einen originellen Gedanken kam

von Vyacheslav Dobrovych  22.11.2019 11:06 Uhr

Eines Tages wollte Rabbi Abbahu ein Glas Wasser trinken. Sein Sohn Avimi brachte ihm das Glas. Doch als er seinen Vater erblickte, war dieser bereits eingeschlafen. Um das Gebot »Ehre deinen Vater und deine Mutter« zu erfüllen, beschloss Avimi, seinen Vater nicht zu wecken, sondern zu warten, bis er aufwacht. Während des Wartens wurde Avimi für das Erfüllen des Gebotes belohnt: G’tt gab ihm einen neuen und originellen Gedanken, um den 79. Psalm zu interpretieren (Kidduschin 31b).

Die talmudische Geschichte endet hier, doch der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) geht auf diese Geschichte noch tiefer ein. Seiner Meinung nach bestand die Interpretation Avimis aus einer Erklärung der ersten beiden Worte im Text des 79. Psalms. Er beginnt mit den Worten: »Ein Lied Asafs« und handelt von der Zerstörung des Tempels.

Güte Laut Raschi fragte sich Avimi, wieso ein solch trauriger Psalm nicht mit den Worten »Ein Klagelied Asafs«, sondern mit den Worten »Ein Lied Asafs« eingeleitet wird. Avimi erkannte, dass die Zerstörung des Jerusalemer Tempels eigentlich ein Akt der Güte war. G’tt zerstörte zwar den Tempel, doch das jüdische Volk durfte weiterleben.

Der Talmud betont: »Ständig sollte sich der Mensch sagen: Alles, was der Barmherzige geschehen lässt, passiert zum Guten«.

Diese Interpretation erinnert sehr stark an eine andere talmudische Geschichte. Im Traktat Brachot (7b) interpretieren die Weisen die Einleitung des dritten Psalms »Ein Lied Davids, als er vor seinem Sohn Awschalom floh«. Auch hier wären die Worte »Klagelied« passender gewesen, denn es geht ja um Davids Flucht vor dem eigenen Sohn.

Der Talmud erklärt, David habe verstanden, dass es sich um einen verborgenen Akt der g’ttlichen Güte handelte.

INTERPRETATION Sowohl Raschis Kommentar zur Geschichte von Rabbi Abbahu und Avimi als auch die talmudische Interpretation zur Geschichte von David und Awschalom sind optimistische Auslegungen trauriger Geschichten. Kritiker würden sogar von unrealistischen Beschönigungen sprechen.

Doch diese Interpretationen bringen eine im Judentum fest verankerte Idee zum Vorschein – eine Idee, die in zahlreichen talmudischen Aussagen veranschaulicht wird.

Der Talmud betont: »Ständig sollte sich der Mensch sagen: Alles, was der Barmherzige geschehen lässt, passiert zum Guten« (Brachot 60b).

Alejnu Jeden Tag beten fromme Juden das Alejnu-Gebet. Auch darin verbirgt sich die oben genannte Idee. Das Gebet endet mit den Worten des Propheten Secharja (14,9): »An jenem Tag wird der Ewige eins und sein Name eins sein«.

Der Talmud (Pessachim 50a) ist über die Worte des Propheten zunächst sehr bestürzt. Wenn G’tt erst »an jenem Tag eins« sein wird, impliziert es doch, dass es zurzeit noch nicht so ist. Dies widerspricht ganz klar dem Glaubensbekenntnis des Judentums: »Höre Israel, der Ewige ist dein G’tt, der Ewige ist eins.« Der Talmud antwortet auf dieses Dilemma: G’tt ist das ultimative Gute, und deswegen ist das in der Welt existierende Böse ein Widerspruch zur Idee seiner Einheit. Wenn das Gute einzig ist, so sollte das Böse doch keinen Platz mehr haben. Heute gibt es Dinge, die wir in unserer Subjektivität als positiv bewerten, und Dinge, die wir als negativ bewerten.

Objektiv gesehen, ist daher G’tt zwar einzig, doch unsere Wahrnehmung hat das Elend der Welt als Gegenpol zu dieser Einheit ständig vor Augen. »An jenem Tag«, also an dem Tag, an dem das messianische Zeitalter anbricht, soll auch das von uns Menschen als schlecht Empfundene eine Neubewertung erhalten. Alles ist ein Ausdruck g’ttlicher Güte, unabhängig davon, ob diese gerade erkennbar ist oder nicht. Der Widerspruch soll an jenem Tag aufgelöst werden, damit jeder erkennt, dass G’tt wahrlich eins ist.

Zaw

Mit Umsicht und Respekt

Die Tora beschreibt, wie wir kurz vor Pessach für Bedürftige spenden sollen

von Rabbiner Joel Berger  30.03.2023

Talmudisches

Affen

Was unsere Weisen über den Orang-Utan und seine Verwandten lehrten

von Chajm Guski  30.03.2023

Behandlung

Der Truthahn-Prinz

Was Rabbi Nachman den Psychotherapeuten C.G. Jung, Milton H. Erickson und Carl Rogers voraushatte

von Rabbiner David Kraus  30.03.2023

Wajikra

Zeichen der Zuwendung

So wie sich die Engel gegenseitig rufen, wird Mosche vom Ewigen gerufen

von Rabbinerin Gesa Ederberg  24.03.2023

Talmudisches

Urteile, die zum Himmel schreien

Was unsere Weisen über die Gerichtsbarkeit in der Stadt Sodom lehrten

von Yizhak Ahren  24.03.2023

Interview

»Unser Einfluss wird größer«

Ilana Epstein über die Rolle der Rebbetzin, Veränderungen und ein Treffen in Wien

von Imanuel Marcus  23.03.2023

Debatte

Für die Freiheit des Glaubens

Moskaus früherer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt sprach in Berlin über die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine für das jüdische Leben in Europa

von Gernot Wolfram  23.03.2023

Konferenz

Rat für Ratgeberinnen

Rebbetzins aus ganz Europa tauschten sich in Wien über ihre Herausforderungen im Alltag aus

von Stefan Schocher  23.03.2023

Technologie

Beten mit Handy

Warum spezielle Apps viel mehr sein können als Siddurim auf dem Smartphone

von Chajm Guski  21.03.2023