Kalender

Alles hat seine Zeit

Monat für Monat: Mosaik der zwölf Sternzeichen in der antiken Synagoge in Beit Alpha/Israel Foto: Marco Limberg

Wollten Sie nicht schon immer wissen, was das kommende Jahr für Sie bereithält? Die Antwort dazu ist nun endlich gefunden: »Keine Sorge, dieses Jahr wird herausfordernd, aber es bietet eine Vielzahl wunderbarer Chancen, das Leben ganz neu zu gestalten!« Dies ist die eindeutige Ansage einer nicht näher zu benennenden Astrologie-Internetseite. Alles klar? Ganz richtig bemerkt: Man kann mit solchen Aussagen wenig anfangen, da sie so allgemein formuliert sind, dass sie jederzeit richtig sind und zutreffen. Kein Wunder, dass dieselbe Seite ein »Orakel zum Selbermachen« anbietet – das kriegt man also auch hausgemacht hin.

Jedoch können wir auch aus jüdischer Sicht nicht von uns weisen, dass gewisse Zeiten unter bestimmten Einflüssen stehen und sich mit ihnen die jeweilige Aufgabe des Menschen ändert. So lesen wir in unserem Wochenabschnitt: »Hüte den Monat des Frühlings, und du sollst das Pessachopfer dem Ewigen, deinem G’tt, machen, denn im Monat des Frühlings hat dich der Ewige, dein G’tt, aus Ägypten herausgeführt« (5. Buch Moses 16, 1). Mit diesem Satz führt die Tora den Jahreszyklus der drei Wallfahrtsfeste ein. Wie aus dem Zitat hervorgeht, soll man den Frühlingsmonat »hüten« und nur dann das Pessachopfer darbringen. Was bedeutet es, den Frühlingsmonat zu hüten?

einfluss Es gibt Zeiten, in denen Heiligkeit ruht. Dies entnehmen wir der Gebetsform an Feiertagen: »Gelobt seist Du, Ewiger, Der Jisrael und die Zeiten heiligt.« Doch darüber hinaus hat die Zeit einen direkten Einfluss auf die Realität. Die Geschehnisse, die sich in einer gewissen Zeitperiode ereignen, werden von dieser in direkter Weise geprägt. Dieser Gedanke lässt sich anhand mehrerer Beispiele erläutern. Der Talmud (Taanit 28b – 29a) erzählt von fünf Tragödien, die sich am 17. Tamus ereigneten, und von weiteren fünf, die am 9. Aw, den beiden Fast- und Trauertagen im Sommer, stattfanden. Er stellt schließlich in diesem Zusammenhang fest: »Gutes wird an guten Tagen herbeigeführt, und Schlechtes an schlechten Tagen.«

Da der 9. Aw ein schlechter Tag ist, führte G’tt an diesem auch die Zerstörung des zweiten Tempels herbei. In dieser Erklärung liegt die spezielle Auffassung der Zeit: Jeder Tag hat seinen Charakter und ist für gewisse Dinge speziell geeignet. Dies übt einen direkten Einfluss auf die Realität aus. Auch halachisch wirkt sich diese Auffassung direkt in unserem praktischen Leben aus, soll man in diesen Tagen zum Beispiel einen Prozess vor Gericht vermeiden, »da dann ihm das Glück ungünstig ist« (Taanit 29b, Schulchan Aruch Orach Chajim 551, 1). Dieses Prinzip lässt sich auch auf die Monate erweitern, wie wir in diesen Versen aus dem Talmud ersehen: »So, wie man mit dem Eintritt des Monats Aw die Freude verringert, mehrt man die Freude, wenn der Monat Adar eintritt.« Im Gegensatz zum Aw ist der Adar ein Monat, der Erfolg und Freude mit sich bringt. Zeit ist nicht nur ein Maßstab, der Geschehnisse in ein bestimmtes Verhältnis zueinander setzt, sondern etwas, das einen eigenen Inhalt besitzt.

Offenbarung Im Talmud (Rosch Haschana 10b) diskutieren unsere Weisen, ob die Welt im Monat Nissan, im Frühling, oder im Tischri, im Herbst, erschaffen wurde. Der Hintergrund und tiefere Sinn dieser Diskussion liegt in den Charakteren der beiden Monate: Nissan und Tischri sind Ausdruck für die g’ttliche Führung der Welt und der Art der Offenbarung G’ttes in ihr. Der Monat Nissan ist von der reinen g’ttlichen Planung geprägt. G’tt führt und lenkt die Welt gemäß seines festen und unverrückbaren Beschlusses, während es dem Menschen verwehrt ist, sich in diese Führung einzumischen und auf die Schöpfung Einfluss zu nehmen.

Die besonderen Ereignisse dieses Monats weisen eben diesen Charakter auf: der Abstieg nach Ägypten und der Auszug von dort – beides wurde unserem Vorvater Abraham schon Jahrhunderte zuvor als unverrückbare Tatsachen offenbart (1. Buch Moses 15,13). Das mit diesen Ereignissen verbundene Pessachfest sieht für den Menschen hauptsächlich vor, zu erinnern und zu erzählen. Denn das ist des Menschen Aufgabe in diesem Monat: die Offenbarung der Größe und Stärke G’ttes zu verkünden und zu lobpreisen.

Umkehr Im Gegensatz dazu stehen der Monat Tischri und die da stattfindenden Hohen Feiertage: Während dieser Zeit gibt G’tt dem Menschen die Möglichkeit und die Mittel, aktiv auf die Welt Einfluss auszuüben und sie zu verändern. Nach wie vor ist G’tt unangefochtener König der Welt. Aber auch der Mensch kann in ihr mit seinen Taten, Reden und Gedanken wirken. Er kann Teschuwa – Umkehr und Reue – begehen, sich korrigieren und verändern. In diesem Monat betet man für das ganze Jahr, denn in diesem Monat kann der Mensch die Realität beeinflussen. Tischri ist der Monat des Gebetes, während Nissan der Monat des Segens und der Lobpreisung ist.

Auch in der Offenbarung G’ttes in der Natur spiegeln sich die verschiedenen Charakterzüge dieser Monate wider. Tischri ist im Herbst: Die Welt ist kahl, die Schöpfung im Zustand des Schlummers und der Erwartung. Kaum etwas wächst und blüht. Der Mensch ist mit der Bearbeitung des Bodens und der Aussaat beschäftigt und um die Entwicklung und das Wachstum der Welt bemüht. Sie ist in der Hand des Menschen, er betet für erfolgreiches Getreidewachstum und Regen. Und wenn er ausbleibt, ist es an ihm, zu fasten und Umkehr zu tun (Talmud Taanit, 1. Kapitel).

Im Nissan hingegen blüht alles auf, die Bäume sind mit Früchten beladen, und in den Feldern steht das volle Getreide. Der Mensch braucht nur noch zu ernten und die Güter, die G’tt ihm zukommen lässt, zu genießen. Der Ewige offenbart sich in der Welt, und dem Menschen bleibt nur noch, Ihn dafür zu loben und zu segnen.

Diese Einteilung lässt sich anhand einiger Beispiele verdeutlichen: Wie über die Frage, in welchem Monat und unter welchem Zeichen die Weltschöpfung stattfand, waren sich unsere Weisen auch über die Geburtsstunde unserer Vorväter Awraham und Jakow uneins, ob diese nun im Nissan oder im Tischri gewesen sei (Talmud Rosch Haschana 11b). In einem Punkt sind sie sich jedoch einig: Unser Vorvater Jitzhak wurde im Nissan geboren.

Passivität Das tiefere Verständnis dieser Talmudstelle liegt in den obigen Ausführungen: Jitzhak führte ein Leben der Passivität. Willig ließ er sich auf den Altar binden, bereit, sich opfern zu lassen. Seine Frau Riwka wurde von Elieser, dem Hausknecht, gefunden, angeworben und nach Hause geführt, sodass Jitzhak sie nur noch zu heiraten brauchte.

Auch als es darum ging, den Segen seines Vaters Awraham an den geeigneten Nachkommen – Jakow oder Esau – weiterzuleiten, wurde Jitzhak, obschon Inhaber dieser Funktion, zum passivsten Teilnehmer. Awraham und Jakow hingegen beeinflussten ihr eigenes Leben tatkräftig. Kaum eine Begebenheit ging vonstatten, ohne dass sie initiativ daran Anteil nahmen.

Wenn wir also von der Tora angewiesen werden, den Monat des Frühlings zu hüten, um Pessach zu feiern, so bedeutet das: Wir sollen dafür sorgen, dass der Inhalt dieser Jahreszeit mit dem Ereignis, das darin stattgefunden hat, vereint bleiben. Wir kommen dieser Anweisung nach, indem unser Kalender durch die Regulierung des zuweilen zugeschalteten Schaltmonats regelt, dass Pessach stets im Frühling stattfindet. Das soll uns an unsere Aufgabe in dieser Zeit erinnern: G’ttes Größe zu erkennen und zu preisen.

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025