Am Haaretz

Abstieg eines Gerechten

Priorität: Noach hätte nach dem Verlassen der Arche auch Getreide säen können, aber er legte einen Weinberg an. Foto: Getty Images

Am Haaretz

Abstieg eines Gerechten

Warum es kein guter Neubeginn war, dass Noach nach der Sintflut zuerst einen Weinstock pflanzte

von Rabbiner Avraham Radbil  23.10.2020 10:10 Uhr

Nachdem Noach die Arche nach der Sintflut verlassen hatte, pflanzte er einen Weinstock. In der Tora heißt es »wajachel Noach« (9,20), was gewöhnlich mit »und Noach begann« übersetzt wird.

Der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) meint, die Wörter »wajachel« seien ein Hinweis darauf, dass sich Noach herabwürdigte, ja entweihte, als er nach dem Verlassen der Arche als Erstes einen Weinstock pflanzte.

Es gibt viele Dinge, die der Schulchan Aruch nicht erwähnt, weil sie eindeutig in der Tora festgehalten sind.

Derselbe Noach, der am Beginn des Wochenabschnitts als rechtschaffen und vollkommen (Zaddik, Tamim) bezeichnet wurde, erlebt einen geistigen Abstieg und wird nun als »Am Haaretz« – »Mann der Erde« – beschrieben. Wein hätte nicht die erste Feldfrucht sein sollen, die er pflanzte. Es war kein guter und vielversprechender Neubeginn auf trockenem Boden.

GRÖSSE Rabbiner Owadja ben Jakow Sforno (1470–1550) erklärt, es sei an sich kein Verbrechen gewesen, einen Weinstock zu pflanzen – aber für jemanden wie Noach hätte es nicht das Erste sein sollen.

Oft fängt der Abstieg aus der geistigen Höhe eines Gerechten auf die Stufe eines gewöhnlichen Menschen genauso an. Es beginnt nicht mit dem Abstreiten jeglicher Werte, an die man bisher geglaubt hat, sondern mit einer Handlung, die für eine Person seiner Größe einfach unpassend ist.
Raw Henoch Leibowitz (1918–2008) zitiert einen berühmten Ausspruch von Rabbi Vidal di Tolosa, dem Maggid Mischne aus dem 14. Jahrhundert. Dieser sagte, dass die Mizwa »Du sollst das Richtige (Gerade) und das Gute tun« – »haJaschar wehaTow« (5. Buch Mose 6,18) eine Aufforderung ist, sich angemessen zu verhalten.

Der Maggid Mischne erklärt, dass die Tora nicht auf alle Einzelheiten eingehen kann.

Viele Menschen fragen, wenn sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Tora von ihnen ein bestimmtes Verhalten verlangt: »Wo steht das geschrieben? Wo sagt die Tora, dass man das nicht tun soll? Wo steht im Schulchan Aruch, dass das verboten ist?« Die Antwort auf diese Frage gibt eben dieser Vers: »Du sollst tun, was gut und richtig ist.«

Der Maggid Mischne erklärt, dass die Tora nicht auf alle Einzelheiten eingehen kann. Außerdem kann sich das, was gut und richtig ist, mit der Zeit ändern. Die Tora wurde jedoch für alle Zeiten und Orte gegeben. Die Einzelheiten dessen, was wir als »haJaschar wehaTow« empfinden, können sich mit der Zeit ändern und an verschiedenen Orten unterschiedlich ausgelegt werden. Es gibt keinen bestimmten Weg, ein »Mentsch« (eine Person, die sich moralisch und ethisch richtig verhält) zu sein. Aber die Verpflichtung, ein »Mentsch« zu sein, ist allumfassend. Es ist ein positives biblisches Gebot.

WÜRDE Dieses Gebot erstreckt sich auf viele Bereiche unseres Lebens. Die Achtung der Würde, der Gefühle und auch der Zeit anderer Menschen gehört mit Sicherheit ebenfalls dazu.

Wo zum Beispiel steht im Schulchan Aruch, dass man pünktlich zu seinem Termin kommen soll, wenn man einem anderen Menschen diese Zeit zugesagt hat und er auf einen wartet? Es wird im Schulchan Aruch gar nicht erwähnt. Warum nicht? Weil es ein ausdrückliches biblisches Gebot ist! Es gibt viele Dinge, die der Schulchan Aruch nicht erwähnt, weil sie eindeutig in der Tora festgehalten sind. Die Mizwa heißt: »Du sollst tun, was gut und richtig ist!« Diese Mizwa ist allgemein bekannt unter der Bezeichnung »Sei ein Mentsch!« Ein rechtschaffener Mensch kommt zu einem Termin nicht 20 Minuten zu spät, ohne einen triftigen Grund zu haben und sich vorher dafür zu entschuldigen.

Wir sollten auf die Gefühle und Bedürfnisse unserer Mitmenschen achten.

Die Umstände für die Ausführung dieser Mizwa können sich zwar nach der Begebenheit unterscheiden, doch bleibt diese Mizwa für alle diese Situationen bestehen.

Eines Tages wurde Rabbiner Mosche Feinstein (1895–1986) von einer Gruppe junger Jeschiwastudenten zum Auto begleitet. Der Rabbi nahm auf dem Beifahrersitz Platz, und einer der Studenten warf die Tür zu. Nachdem das Auto um die Ecke gefahren war, bat der Rabbiner den Fahrer, kurz anzuhalten. Der Rabbi öffnete die Tür und zog seine Hand heraus, die darin eingeklemmt war.

Der Fahrer fragte: »Wieso haben Sie so lange gewartet und nicht sofort geschrien?« Darauf antwortete Rabbi Feinstein: »Ich hätte den jungen Jeschiwastudenten, der unaufmerksam die Autotür geschlossen hat, öffentlich beschämt und ihm dadurch womöglich das Selbstvertrauen genommen.« So aber blieb er für immer derjenige, der die Ehre hatte, einen der größten Rabbiner seiner Generation zu begleiten. Hätte der Rabbi vor Schmerz aufgeschrien, wäre der junge Mann als derjenige stigmatisiert gewesen, der die Hand von Rabbi Feinstein eingeklemmt hat. Der Rabbi war bereit, große Schmerzen zu ertragen, um einen jungen Mann nicht öffentlich zu beschämen.

Empathie Von Rabbi Feinstein erzählt man sich außerdem, dass ihn jeden Freitag eine Frau anrief und er sich immer, obwohl die Stunden vor Schabbatbeginn gewöhnlich sehr stressig sind, Zeit nahm, mit ihr zu sprechen.

Eines Tages hörte jemand aus der Familie des Rabbiners, worüber er mit der Frau sprach. Es stellte sich heraus, dass sich die Frau jeden Freitag nach den Zeiten für das Zünden der Schabbatkerzen erkundigte und danach dem Rabbiner von ihrer Woche erzählte. Als Rabbi Feinstein gefragt wurde, warum er sich Zeit für diese Frau nehme, obwohl ihr doch jeder andere die Schabbatzeiten nennen könne, erzählte er, dass er diese Frau schon lange kennt. Sie sei alleinstehend, und die Schabbatzeiten seien nur ein Vorwand für sie, um von ihrer Woche zu erzählen.

So verhält sich ein rechtschaffener Mensch, der sich darum bemüht, das Richtige und das Gute zu tun. Und obwohl nicht jeder von uns (sofort) die Stufe von Rabbiner Feinstein erreichen kann, ist uns die Richtung, in die wir uns entwickeln sollten, vorgegeben: nämlich auf die Gefühle und Bedürfnisse unserer Mitmenschen zu achten und uns dementsprechend zu verhalten.

Der Autor ist Gemeinderabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

Paraschat Noach
Der Wochenabschnitt erzählt von G’ttes Beschluss, die Erde zu überfluten. Das Wasser soll alles Leben vernichten und nur Noach verschonen. Der soll eine Arche bauen, auf die er sich mit seiner Familie und einem Paar von jeder Tierart zurückziehen kann. So erwacht nach der Flut neues Leben. Der Ewige setzt einen Regenbogen in die Wolken als Symbol seines ersten Bundes mit den Menschen. Doch die beginnen, die Stadt Babel zu erbauen, und errichten einen Turm, der in den Himmel reicht.

Erstes Buch Mose 6,9 – 11,32

Michael Fichmann

Essay

Halt in einer haltlosen Zeit

Wenn die Welt wankt und alte Sicherheiten zerbrechen, sind es unsere Geschichte, unsere Gebete und unsere Gemeinschaft, die uns Halt geben

von Michael Fichmann  16.10.2025

Sukka

Gleich gʼttlich, gleich würdig

Warum nach dem Talmud Frauen in der Laubhütte sitzen und Segen sprechen dürfen, es aber nicht müssen

von Yizhak Ahren  06.10.2025

Chol Hamo’ed Sukkot

Dankbarkeit ohne Illusionen

Wir wissen, dass nichts von Dauer ist. Genau darin liegt die Kraft, alles zu feiern

von Rabbiner Joel Berger  06.10.2025

Tradition

Geborgen unter den Sternen

Mit dem Bau einer Sukka machen wir uns als Juden sichtbar. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Nachbarn erklären können, was uns die Laubhütte bedeutet

von Chajm Guski  06.10.2025

Sukkot

Fest des Vertrauens

Die Geschichte des Laubhüttenfestes zeigt, dass wir auf unserem ungewissen Weg Zuversicht brauchen

von Rabbinerin Yael Deusel  06.10.2025

Sarah Serebrinski

Sukkot: Freude trotz Verletzlichkeit

Viele Juden fragen sich: Ist es sicher, eine Sukka sichtbar im eigenen Vorgarten zu bauen? Doch genau darin – in der Unsicherheit – liegt die Botschaft von Sukkot

von Sarah Serebrinski  05.10.2025

7. Oktober

Ein Riss in der Schale

Wie Simchat Tora 2023 das Leben von Jüdinnen und Juden verändert hat

von Nicole Dreyfus  05.10.2025

Übergang

Alles zu jeder Zeit

Worauf es in den vier Tagen zwischen Jom Kippur und Sukkot ankommt

von Vyacheslav Dobrovych  03.10.2025

Kirche

EKD: Gaza-Krieg nicht zum Anlass für Ausgrenzung nehmen

Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs: »Offene und gewaltsame Formen des Antisemitismus, besonders in Gestalt israelbezogener Judenfeindschaft, treten deutlich zutage«

 03.10.2025