Hamburg

Zu »Tietz« geht niemand mehr

Beste Adresse: das »Alsterhaus« am Jungfernstieg Foto: imago

Die Frau ist überzeugte Hamburgerin, Jahrgang 1933. Sie erinnert sich, wie sie mit ihrer Mutter per Alsterfähre zum Einkaufen »zu Tietz« fuhr. Zu Tietz? »Klar«, nickt die alte Dame, »Alsterhaus sagten nur die Nazis«.

Tietz war der erste Name des berühmtesten Kaufhauses Hamburgs, Ende April hat es seinen 100. Geburtstag gefeiert. Bis 1933 sind die Hamburger »zu Tietz« gegangen, ab 1933 sagten viele Hamburger »Alsterhaus«, einige weiterhin »Tietz«. Heute weiß kaum noch jemand etwas von Tietz.

nobel Wenn hier vom Kaufhaus Tietz die Rede ist, geht es nicht nur um dessen Namen, es geht auch um Politik, Anpassung, Resistenz, darum, wie sich die große Geschichte im Großen ausdrückt.

Das »Alsterhaus« am Jungfernstieg, noble Hamburger Adresse, handelt auf seiner Homepage die Zeit des Nationalsozialismus so ab: »Die jüdische Familie Tietz musste jedoch wie viele andere auch vor den Nazis ins Ausland fliehen. Systematisch war ihr Warenhaus von Politik und Wirtschaft des NS-Regimes in den Ruin getrieben worden. Nach dem Krieg einigten sich die Erben 1949 mit dem neuen Besitzer des Hertie-Konzerns auf einen Vergleich.« Und dann wird schon über den Besuch von Prince Charles und Lady Di im, natürlich, »Alsterhaus« berichtet.

liquidität Der Historiker Frank Bajohr von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) nennt das, was 1933 mit den Warenhäusern der Familie Tietz geschah, »kalte Arisierung« – im Unterschied zur »formalen Arisierung«. Die »kalte« Variante ging ohne Staat, NSDAP und Gesetze, die erst 1938 kamen.

Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er-Jahre brachte auch das Handelsunternehmen Hermann Tietz & Co., zu dem das Hamburger Kaufhaus gehörte, in Liquiditätsprobleme. »Die Überschuldung war der Hebel, um die Familie Tietz aus dem Geschäft zu drängen«, sagt Bajohr. Hitler war am 30. Januar 1933 Reichskanzler geworden, im Februar hielten die Banken, allen voran die staatlich beherrschte Dresdner Bank, trotz Zusage einen Kredit über 14 Millionen Mark zurück. »Der Kredit wurde Tietz aus politischen Gründen verweigert«, so Bajohr.

arisch Der Druck auf jüdische Unternehmer wuchs, die nationalsozialistisch dominierte Regierung »minimierte die Chancen jüdischer Unternehmer, auf Dauer erfolgreich zu sein«, sagt Bajohr. Dass sich dies auch in Zukunft kaum ändern würde, »war 1933 abzusehen«, meint der Historiker, »besser also, jetzt zu verkaufen, als zu warten. Diese Strategie hat sich als richtig erwiesen.«

Unter der Bedingung, dass ein »arischer« Geschäftsführer eingesetzt wird, waren die Banken bereit, der Tietz-Gruppe Kredit zu gewähren. Im März 1933 luden sie die drei Geschäftsführer des Tietz-Konzerns, Hugo Zwillenberg sowie Georg und Martin Tietz, vor, und konfrontierten sie mit einem »Entschuldungsplan«. Am 31. März 1933 traten die Tietz-Vorstände notgedrungen zurück. Der landesweite Boykott der NSDAP vom 1. April 1933 gegen jüdische Warenhäuser, Arztpraxen und Anwaltskanzleien verschärfte die Lage.

Die Familie Tietz verkaufte ihre Aktien, deren Wert in Folge der Hetzkampagne dramatisch gefallen waren, an die neuen Mehrheitseigentümer: Commerzbank, Deutsche Bank, Dresdner Bank. Bajohr nennt dies »eine für die ersten Jahre des NS-Regimes typische Entwicklung«. Gerade weil der Staat anfangs nur indirekt eingriff, war »die Arisierung ohne die vielen gesellschaftlichen Beteiligten nicht möglich gewesen«.

neuer name Was aus dem »Warenhaus Hermann Tietz« in Hamburg wird, entscheiden nach dem 5. April 1933 die Banken. Sie machen aus der »Hermann Tietz OHG« die »Hertie-Kaufhaus-Beteiligungs GmbH«, im Namen Hertie ist der Name Hermann Tietz gut versteckt, und aus den Häusern von Leonhard Tietz wird »Kaufhof«. Den »judenfreien« deutschen Konzernen geben die Banken Kredit. So wie Hertie und Kaufhof entstanden, so wurde aus dem umgangssprachlichen Einkaufen »zu Tietz« bald die Shoppingtour im »Alsterhaus«.

Der Historiker Bajohr findet, dass ein 100. Geburtstag eine gute Gelegenheit wäre, daran zu erinnern, wer die Idee hatte, am Jungfernstieg ein Warenhaus zu eröffnen, und auf dessen alten Namen hinzuweisen. Und dass dies Aufgabe des »Alsterhauses« wäre.

Judenhass

Charlotte Knobloch warnt: Zukunft jüdischen Lebens ungewiss

Die Hintergründe

 16.11.2025

Extremismus

Beobachtungsstelle: Tausende christenfeindliche Straftaten in Europa

Europa gilt immer noch als christlicher Kontinent. Doch Experten warnen: Christen sind von einem Klima wachsender Intoleranz bedroht. Auch in Deutschland muss die Lage Besorgnis erregen

 16.11.2025

Deutschland

Auktion von Besitztümern von NS-Opfern abgesagt

Im Online-Katalog waren unter anderem Dokumente und Post von NS-Verfolgten aus Konzentrationslagern sowie Täterpost zu finden

 16.11.2025 Aktualisiert

Meinung

Mit Martin Hikel geht einer, der Tacheles redet

Der Neuköllner Bürgermeister will nicht erneut antreten, nachdem ihm die Parteilinke die Unterstützung entzogen hat. Eine fatale Nachricht für alle, die sich gegen Islamismus und Antisemitismus im Bezirk einsetzen

von Joshua Schultheis  16.11.2025

Berlin

Merz verspricht Schutz jüdischen Lebens in Deutschland

Bei der diesjährigen Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz im Jüdischen Museum Berlin an Amy Gutmann und David Zajfman gab Bundeskanzler Friedrich Merz ein klares Versprechen ab

 16.11.2025

Meinung

Die Ukrainer brauchen unsere Hilfe

Die Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten in Deutschland nimmt ab. Aus einer jüdischen Perspektive bleibt es jedoch wichtig, auch weiterhin nicht von ihrer Seite abzuweichen

von Rabbinerin Rebecca Blady  16.11.2025

Berlin

Angriff auf Leiter deutsch-arabischer Schule in Neukölln

Al-Mashhadani gilt als Kritiker islamistischer Netzwerke und setzt sich für einen arabisch-israelischen Austausch ein

 15.11.2025

Debatte

»Hitler hatte eine unentdeckte genetische sexuelle Störung«

Eine neue britische Dokumentation über Adolf Hitler sorgt für Diskussionen: Kann die Analyse seiner DNA Aufschluss über die Persönlichkeit des Massenmörders geben?

 15.11.2025

Deutschland

Auschwitz-Komitee: Geplante Auktion ist schamlos 

Ein Neusser Auktionshaus will einen »Judenstern« und Briefe von KZ-Häftlingen und deren Angehörigen versteigern. Das internationale Auschwitz-Komitee reagiert

 15.11.2025