Perspektive

Worte und Werte

Wie viel Religion braucht die Öffentlichkeit? Foto: Getty Images

Wie viel Religion braucht die Öffentlichkeit? Hat sie überhaupt noch etwas zu den gesellschaftsumfassenden und aktuellen Tagesthemen zu sagen? Handelt es sich nicht um archaische, längst überholte, vielleicht sogar primitive Weltanschauungen und Denkweisen, die ihr zugrunde liegen?

Wie viel Religion braucht die Öffentlichkeit? Diese Frage stellt sich zumindest seit der Zeit der Aufklärung, der Französischen Revolution und der prinzipiellen Trennung von Staat und Religion ganz konkret, seitdem sich die Stellung und Aufgabe der Religion im öffentlichen Raum in Europa enorm gewandelt haben. In einer zunehmend säkularisierten Welt stellt sich daher auch die Frage: Braucht es überhaupt die Stimme der Religion in der Öffentlichkeit?

Fragen Doch bevor wir uns diesen aktuellen Fragen zuwenden, möchte ich gerne zu bedenken geben: Was wäre die Menschheit ohne Religion? Viele der Grundwerte, die heute als selbstverständlich angenommen werden und unser Verständnis prägen, entstammen direkt der Tora und waren nicht immer so selbstverständlich. So verspotteten die Römer noch das jüdische Volk als faul, weil es der Idee folgte, einen wöchentlichen arbeitsfreien Ruhetag einzuhalten. Heute ist in den meisten westlichen Ländern ein arbeitsfreier Tag pro Woche zu einem Grundrecht geworden und wird nicht als der ökonomischen Produktivität des Menschen zuwider, sondern förderlich betrachtet.

Die Verantwortung des Menschen gegenüber Umwelt und Schöpfung treffen wir bereits bei der Erschaffung Adams an, der angewiesen wird, die Natur rund um sich herum zu bewahren, oder bei Noah, der alle Tierarten vor dem Aussterben rettete.

Das Zusammenleben der verschiedenen Nationen und Kulturen ist schon allein darin wohlbegründet, dass die gesamte Menschheit einen Ursprung hat und somit wie eine große Familie zu betrachten ist. Den Mitmenschen zu lieben wie sich selbst, ist also eine logische Konsequenz, die ebenfalls schon in der Tora enthalten ist. Das Fundament eines Sozialstaates finden wir in der Tora, die den Armen, Bedürftigen, Witwen und Waisen einen Sonderstatus einräumt und die Gesellschaft sowohl strukturell in Form verschiedener Abgaben als auch moralisch immer wieder mahnt, diese zu unterstützen und keinesfalls deren nachteiligen Zustand auszunutzen. Theologisch untermauert wird dieser Gedanke damit, dass sich die Größe des Allmächtigen gerade darin zeigt, wie sehr Er Sich der Benachteiligten annimmt und sie Ihm besonders nahestehen.

Das Fundament eines Sozialstaates finden wir in der Tora.

Viele dieser Ideen, die direkt aus der Tora und dem Judentum stammen, haben an Aktualität nichts eingebüßt und bereichern die öffentliche Debatte ungemein. Es handelt sich um überdauernde Werte, deren Vorteil aus religiöser Sicht darin liegt, dass ihr Ursprung nicht im Menschen liegt, sondern in G’tt. Das ist deshalb von Vorteil, weil ihnen einerseits die g’ttliche Ewigkeit zugrunde liegt und sie damit einen festen Halt bieten, andererseits, weil jede vom Menschen hervorgebrachte Ansicht nicht völlig frei von dessen subjektiven Erfahrungen und Interessen ist.

Deshalb sollte die Stimme der Religion gerade in ethischen Fragen stärker gefragt und wahrgenommen werden. Gerade in heutiger Zeit, in der pandemische Krankheiten, Krieg, Energie- und Wirtschaftskrisen ganz unverhofft unseren Alltag und unser Leben betreffen, ja oft bestimmen, ist es mitunter die Stimme der Religion, die andere Perspektiven schaffen kann. Perspektiven von Spiritualismus in einer materiell ausgerichteten Wertegesellschaft, Perspektiven von Hoffnung und Halt, die über unser individuelles physisches Dasein hinausgehen, Perspektiven von Zusammen­halt und gegenseitiger Bestärkung, wo sich der Einzelne vielleicht ohnmächtig und verloren fühlen könnte.

Die Wissenschaft, so beachtlich und bewundernswert sie in unserer Zeit ist, untersucht, wie die Vorgänge der Welt funktionieren, sie versucht Antworten auf das »Wie?« zu geben. Die Religion aber befasst sich mit dem »Warum?«, wozu Dinge führen und worin der hintergründige Sinn bestehen könnte.

Trend In den vergangenen Jahrzehnten hat der Trend zugenommen, Wünsche augenblicklich umsetzen zu können. Im Internet sind Informationen und Eindrücke stets abrufbar, saisonale Früchte sind jederzeit verfügbar, Einkäufe können jederzeit und von überall aus getätigt werden, die enorme Mobilitätsrate sorgt dafür, dass einem die Welt buchstäblich zu Füßen liegt. Erinnert das nicht etwas an Esaw, der ein Linsengericht den Vorzügen des rein spirituellen Erstgeborenenrechts vorzog, da er ja sowieso »morgen sterben werde«? Unser Vorvater Jakow hingegen zeigt mit seinem ganzen Leben auf, dass oft auf gegenwärtige Vorzüge verzichtet werden muss, um Überdauerndes zu schaffen. Gerade er, dessen Leben von Krisen nur so durchzogen war (Flucht vor Esaw, Laban, die Geschichte mit Sichem, vermeintlich verlorene Söhne, Exil in Ägypten), ausgerechnet er legt den Grundstock für das Volk Israel, in dem sein Name ewig weiterlebt.

Seit der Aufklärung dürfen wir in Zeiten und Ländern leben, in denen Religion nicht mehr als Zwang erlebt werden soll, und das ist gut so. Andererseits hat die Stimme der Religion für die Öffentlichkeit nach wie vor einen großen Beitrag zu leisten – und kann und soll die öffentlichen Debatten auch künftig bereichern.

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

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