NS-Prozess

»Wir Überlebenden sind hier und wollen Zeugnis ablegen«

Prozess gegen den mutmaßlichen ehemaligen Wachmann im KZ Sachsenhausen Foto: picture alliance/dpa

Im NS-Prozess gegen einen früheren Wachmann des KZ Sachsenhausen hat ein israelischer Überlebender an den Angeklagten appelliert, sein Schweigen zu brechen und seine Schuld einzugestehen.

»Ist Ihnen Ihr dunkles Geheimnis so viel wert, dass Sie sich nicht entschuldigen können für ihren Beitrag zu meinem Leid?«, fragte der Überlebende Emil Farkas am Donnerstag zum Ende seiner Zeugenaussage den 100-jährigen Angeklagten, der laut Anklage als Wachmann der SS in dem KZ von 1942 bis 1945 Beihilfe zum Mord an Tausenden Lagerhäftlingen geleistet haben soll.

»Sie haben mich im Schuhläuferkommando im Lager gesehen und Sie haben mich gehört, denn wir mussten beim Marschieren das Lied von ›Erika‹ singen«, sagte der 92-jährige Nebenkläger, ein aus der Tschechoslowakei stammender Jude und späterer Leistungssportler der israelischen Nationalmannschaft im Geräteturnen, zu dem Angeklagten. »Seien Sie mutig, wenigstens jetzt.« Am zweiten Prozesstag hatte der Angeklagte bestritten, in dem KZ gewesen zu sein.

zwangsarbeit Er selbst sei Ende 1944 mit 15 Jahren nach Sachsenhausen deportiert worden und habe dort quälende Zwangsarbeit leisten müssen, berichtete der 92-Jährige aus Haifa, der von mehreren Angehörigen zu der Gerichtsverhandlung begleitet wurde: »Es ist sehr schwer, über solche Sachen zu reden.« Mit seiner Aussage wolle er auch ein Zeichen setzen und deutlich machen, »wir Überlebenden sind hier und wollen Zeugnis ablegen«, sagte sein Anwalt Thomas Walther.

»Ist Ihnen Ihr dunkles Geheimnis so viel wert, dass Sie sich nicht entschuldigen können für ihren Beitrag zu meinem Leid?«, fragte der Überlebende Emil Farkas am Donnerstag zum Ende seiner Zeugenaussage.

Als Sportler habe er auch im Konzentrationslager morgens Turnübungen gemacht und sei damit der SS-Wachmannschaft aufgefallen, sagte Farkas. Im sogenannten Schuhläuferkommando habe er dann mit anderen Häftlingen täglich rund 40 Kilometer Stiefel einlaufen müssen und miterlebt, wie Gefangene vor Erschöpfung starben oder erschossen wurden, wenn sie zu entkräftet waren. In dem Kommando, das den späteren Todesmärschen gleichkam, wurden unter mörderischen Bedingungen Schuhe und Stiefel für die zivile Schuhproduktion und die Wehrmacht getestet.

Von Sachsenhausen sei er 1945 erst nach Bergen-Belsen, dann nach Dachau verlegt und dort von der US-Armee befreit worden. Mehrere Angehörige seien in der Schoa ums Leben gekommen, Mutter, Vater und ein Bruder hätten wie er überlebt. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs habe es rund 50 Jahre gedauert, bis er über die Qualen, die ihm und seiner Familie zugefügt wurden, sprechen konnte. »Ich wollte eigentlich alles vergessen«, betonte Farkas: »Ich war stumm, jahrzehntelang.«

appell Der geschäftsführende Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, sagte nach der Verhandlung, die Aussagen seien »der eindrucksvollste Appell« an den Angeklagten gewesen, »auch aus der Mauer seines Schweigens auszubrechen«. Dem 100-jährigen Josef S. wird Beihilfe zum Mord in mindestens 3518 Fällen vorgeworfen (AZ: 11 Ks 4/21). Am Freitag sollen der psychiatrische Sachverständige, der seine Verhandlungsfähigkeit untersucht hat, und ein Nebenkläger aus Frankreich, Nachkomme eines Häftlings, als Zeugen angehört werden.

Den Ermittlungen zufolge hat Josef S. in der Zeit zwischen dem 23. Oktober 1941 und dem 18. Februar 1945 im KZ Sachsenhausen als SS-Wachmann gearbeitet. Im Zuge der Ermittlungen wurden unter anderem umfangreiche Dokumente aus der Gedenkstätte Sachsenhausen, dem Bundesarchiv in Berlin und der Stasi-Unterlagenbehörde ausgewertet.

Der Angeklagte hatte sich bei seiner Vernehmung am zweiten Prozesstag für unschuldig erklärt. In der Befragung zu seinem Lebenslauf hatte er sich zwar zu Kindheit und Armeezeit in Litauen, Kriegsgefangenschaft und DDR-Zeit geäußert, jedoch nicht zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft. epd/dpa

Interview

»Weder die Verwaltung noch die Politik stehen an meiner Seite«

Stefan Hensel hat seinen Rücktritt als Antisemitismusbeauftragter Hamburgs angekündigt. Ein Gespräch über die Folgen des 7. Oktober, den Kampf gegen Windmühlen und kleine Gesten der Solidarität

von Joshua Schultheis  25.11.2025

Ramallah

Nach Hammer-Angriff auf Israeli - mutmaßlicher Täter getötet

Vor mehr als einem Jahr kam ein israelischer Wachmann im Westjordanland bei einem Angriff ums Leben. Seitdem haben israelische Sicherheitskräfte nach dem flüchtigen Täter gesucht

 25.11.2025

Orange Day

Palina Rojinski spricht über Gewalt in früherer Beziehung

Wie viele Frauen hat auch die Moderatorin einst in einer Beziehung Gewalt durch ihren Partner erfahren. Darüber spricht sie nun auf Instagram. Sie will anderen Mut machen, sich Hilfe zu holen

 25.11.2025

Entscheidung

Berlin benennt Platz nach Margot Friedländer

Jahrzehntelang engagierte sich die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer für Aussöhnung. Nun erfährt die Berlinerin nach ihrem Tod eine besondere Ehrung

 25.11.2025

Hanau

Rabbiner antisemitisch beleidigt

Für die Gemeinde ist die Pöbel-Attacke kein Einzelfall

 25.11.2025

Berlin

RIAS: Polizei erfasst antisemitische Taten lückenhaft

Der Bundesverband sagt, es gebe strukturelle Probleme, Unsicherheiten im Umgang mit Betroffenen und ein insgesamt unzureichendes Bild antisemitischer Hasskriminalität in den offiziellen Statistiken

 25.11.2025

TV-Tipp

Ein äußerst untypischer Oligarch: Arte-Doku zeigt Lebensweg des Telegram-Gründers Pawel Durow

Der Dokumentarfilm »Telegram - Das dunkle Imperium von Pawel Durow« erzählt auf Arte und in der ARD-Mediathek die Geschichte der schwer fassbaren Messengerdienst-Plattform-Mischung und ihres Gründers Pawel Durow

von Christian Bartels  25.11.2025

Doppel-Interview

»Wir teilen einen gemeinsamen Wertekanon«

Vor 60 Jahren brachte das Konzilsdokument »Nostra aetate« eine positive Wende im christlich-jüdischen Dialog. Bischof Neymeyr und Rabbiner Soussan blicken auf erreichte Meilensteine, Symbolpolitik und Unüberwindbares

von Karin Wollschläger  25.11.2025

Berlin

»Kein Gesprächspartner für Demokratinnen und Demokraten«

Der Verband der Familienunternehmer will sich für Gespräche mit der AfD öffnen – und bekommt dafür Kritik aus verschiedenen Lagern

 25.11.2025