Antisemitismus

»Wir müssen in Zukunft vorsichtiger sein«

Ort des Geschehens: Am Sahlkampmarkt trat die Tanzgruppe Chaverim beim »Internationaler Tag im Sahlkamp 2010« auf, wurde mit Steinen beworfen und antisemitisch beschimpft Foto: Rainer Surrey

Nachdem am vergangenen Sonnabend auf dem Stadtteilfest »Internationaler Tag im Sahlkamp 2010« die achtköpfige Tanzgruppe Chaverim der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover mit Steinen beschmissen und mit antisemitischen Parolen beschimpft worden ist, hat die Polizei Hannover mittlerweile sechs mutmaßliche Tatverdächtige gefasst. Bei den Festgenommenen handele es sich um einen Neunjährigen, zwei Elfjährige und einen 16-Jährigen. Alle hätten einen arabischen Migrationshintergrund, sagte ein Polizeisprecher. Gegen sie wird ein Strafverfahren wegen Volksverhetzung und gefährlicher Körperverletzung eingeleitet.

Dialog Die Erwachsenentanzgruppe, die gegen 18.45 Uhr auf dem multikulturellen Fest aufgetreten war, ist schockiert, möchte sich aber aufgrund der laufenden Ermittlungen nicht zu dem Vorfall äußern. »Die Situation ist katastrophal«, sagte die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde, Ingrid Wettberg, der Jüdischen Allgemeinen. Wettberg hatte von dem Vorfall durch die E-Mail eines Gemeindemitgliedes erfahren. »Unsere Gemeinde möchte nach außen gehen, möchte am interkulturellen Dialog teilnehmen, aber dieses Ereignis hat uns ein Stück zurückgeworfen«, sagt Wettberg. In Zukunft müsse man vorsichtiger sein. Zudem werde die Liberale Gemeinde Strafanzeige stellen. Auch die Vorsitzende des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen, zu denen die Liberale Gemeinde gehört, Katarina Seidler, zeigte sich bestürzt, wollte sich aber ebenfalls mit Hinweis auf die laufenden Ermittlungen nicht äußern.

Hannovers Oberbürgermeister Stephan Weil hat die Angriffe derweil scharf verurteilt. »Wir nehmen den Vorfall sehr ernst. So etwas hat es unseres Wissens in Hannover noch nicht gegeben.« Die Stadt habe inzwischen Strafanzeige gestellt. Weil bedauert den Vorfall umso mehr, als von Hannover wichtige Signale der Versöhnung ausgegangen seien: »Gerade zwischen den jüdischen und palästinensischen Gemeinden in Hannover hat es eine bundesweit einmalige Annäherung gegeben.«

Vehemenz Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, sagte der Jüdischen Allgemeinen: »Dieser traurige Zwischenfall in Hannover belegt eine neue gesellschaftliche Herausforderung, die bereits in den vergangenen Wochen deutlich wie nie zu Tage getreten ist. Offenbar sind unter den in Deutschland lebenden Muslimen antiisraelische, aber vor allem klar antisemitische Ressentiments verbreitet. An diesem Fall stimmt mich besonders traurig, dass jene antisemitischen Einstellungen bereits unter Kindern und Jugendlichen in dieser Vehemenz anzutreffen sind.« Auf den konkreten Fall könne sie erst eingehen, wenn die strafrechtlichen Untersuchungen abgeschlossen und alle Einzelheiten vollständig aufgeklärt seien. Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung warnte vor einer vorschnellen Verurteilung von muslimischen Jugendlichen, sagte aber, dass dieser Angriff eine neue Qualität zeige. Wetzel zeigte sich verwundert darüber, dass der Veranstalter nicht gleich die Polizei gerufen habe.

Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) sagte, man werde keine antisemitischen, rassistischen oder fremdenfeindlichen Übergriffe dulden. Antisemitische Tendenzen unter muslimischen Jugendlichen seien in Niedersachsen als Problem erkannt worden. Allerdings dürften Muslime nicht unter Generalverdacht gestellt werden, sagte der Minister. Auch Integrationsministerin Aygül Özkan (CDU) äußerte sich bestürzt über den Gewaltausbruch. Dieser widerspreche fundamental dem Gedanken der Integration. An das Toleranzgebot müsse sich jeder halten, ganz unabhängig von Religionszugehörigkeit, Herkunft und politischem Standpunkt, erklärte Özkan.

Geschichte

Rechts und links: Wie die AfD ein falsches Goebbels-Zitat verbreitet

Ein Faktencheck

 02.07.2025

Reaktionen

Massive Kritik an Urteil über Charlotte Knoblochs Ex-Leibwächter

Der Mann bewachte die Präsidentin der IKG München, obwohl er sich privat judenfeindlich und rassistisch äußerte. Für das Verwaltungsgericht nicht genug, um ihn aus dem Polizeidienst zu entlassen

 02.07.2025

Kommentar

Justiz: Im Zweifel für Antisemitismus?

Ein Verwaltungsgerichtsurteil lässt große Zweifel aufkommen, dass es alle mit der Bekämpfung von Antisemitismus unter Beamten ernst meinen

von Michael Thaidigsmann  02.07.2025

Australien

Zwei Krankenpfleger, die damit drohten, jüdische Patienten zu töten, haben Arbeitsverbot

Im Februar sorgte ein TikTok-Video für Abscheu und Empörung, in dem zwei Krankenpfleger ihrem blanken Judenhass freien Lauf ließen. Nun stehen sie vor Gericht

 02.07.2025

Nach Skandal-Konzert

Keine Bühne bieten: Bob-Vylan-Auftritt in Köln gestrichen

Die Punkband hatte beim Glastonbury-Festival israelischen Soldaten den Tod gewünscht

 02.07.2025

Statistik

Deutlich mehr antisemitische Vorfälle in Brandenburg

Der aktuelle Monitoringbericht der Fachstelle Antisemitismus für 2024 dokumentiere einen Anstieg um mehr als 28 Prozent auf insgesamt 484 Fälle

 02.07.2025

Pro & Contra

Sollte der Krieg in Gaza beendet werden?

Zwei Meinungen zur Debatte

von Dan Schueftan, Sabine Brandes  02.07.2025

Einspruch

Wir müssen gegen den Iran wehrhaft sein

Die deutsche Politik braucht eine entschlossene Haltung gegen die terroristische Bedrohung aus Teheran. Die jüdischen Gemeinden machen es vor: Sie investieren in Sicherheit und mentale Standhaftigkeit

von Josef Schuster  02.07.2025

Berlin

»BILD«: Hinweis auf Ausspähung von deutschen Juden durch den Iran kam vom Mossad

Die Hintergründe

 01.07.2025