Michaela Vidlakova wohnt in Prag, ihrer Geburtsstadt. Heute lebt die 88-jährige Jüdin dort in Frieden und Freiheit, wie sie selbst sagt. Das war nicht immer so. Wenige Tage vor ihrem sechsten Geburtstag zwangen die nationalsozialistischen Besatzer das Mädchen und ihre Familie ins Konzentrationslager Theresienstadt. Sie überlebte. Frei fühlte sie sich erstmals wieder, als sie auf einem Pferd saß, wie sie im Interview berichtet:
Frau Vidláková, im März 1939 haben die Nationalsozialisten Prag besetzt. Wie hat das Ihren Alltag verändert?
Michaela Vidlakova: Die Besatzer unternahmen alles, um uns aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Vieles wurde uns verboten. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie ich als kleines Mädchen im Sommer nicht mehr in die Badeanstalt durfte. Meine Großmutter und ich durften in der Straßenbahn nur noch im hinteren Wagen stehend mitfahren und nur an Wochentagen. Manchmal, wenn die Straßenbahn zu voll wurde, rief der Schaffner: »Juden raus!«. Die Erwachsenen haben noch viel mehr mitbekommen von den verschiedenen Maßnahmen.
Wie sah Ihr soziales Leben aus?
Ich durfte nicht mehr den Kindergarten besuchen, und meine Familie konnte nur noch zwischen 3 und 5 Uhr einkaufen gehen. Wir mussten häufig zwei Stunden anstehen, um überhaupt etwas abzukriegen. Oft gab es kein Brot und keine Kartoffeln mehr. Ich erinnere mich außerdem daran, dass ich eines Tages in den Innenhof ging, wo wir Nachbarskinder uns immer zum Spielen getroffen hatten. Aber als es verboten wurde, mit Juden zu sprechen, sprach niemand mehr mit mir. So etwas habe ich schon als vierjähriges Kind wahrgenommen.
Im November 1941 fingen die Besatzer an, Juden ins Konzentrationslager Theresienstadt zu deportieren. Sie und Ihre Familie mussten zum Transport im Dezember 1942. Was dachten Sie?Als sechsjähriges Kind war ich naiv. Ich dachte, ich würde dort meine Großeltern wieder sehen, die aber schon nach Auschwitz deportiert worden waren. Und ich freute mich darauf, mit dem Zug zu fahren. Für mich hatte das etwas sehr Abenteuerliches. Ganz anders empfanden das natürlich meine Eltern.
Wussten Sie von den Zuständen im Konzentrationslager?
Wenig. Aufgrund der Zensur war es schwierig, von den Zuständen zu erfahren. Manche erhielten Briefe von Freunden und Verwandten, aber niemand berichtete von Hunger und Not. Aber vor allem mein Vater ahnte, was uns bevorstand. Entsprechend bereitete er auch das Gepäck vor. Jeder durfte 50 kg mitnehmen. Wer kann aber so viel tragen.
Was nahmen Sie mit?
Neben Kleidung und Schuhen auch Handtücher, hygienische Ausrüstung, aber vor allem auch Bettzeug und Bettwäsche. Auch Schüsseln, denn nichts davon gab es in Theresienstadt zu kaufen. Und niemand hatte uns gesagt, wie lange wir dort bleiben sollten. Außerdem nahmen wir Nähzeug mit, viele Knöpfe und Nadeln - und ich nahm mir ein kleines Spielzeug mit - das, wie sich später herausstellte, mir und meiner Familie das Leben rettete.
In Theresienstadt wurden Sie von Ihren Eltern getrennt und lebten in einem Kinderheim. Ihr Vater arbeitete als Handwerker und Ihre Mutter als Betreuerin, wobei sie auch unterrichtete - gegen den Willen der deutschen Lagerführung. Wie denken Sie heute über diese Zeit?
Was ich im Kinderheim erlebt habe, war eine Schule fürs Leben. Eigentlich hat es mein weiteres Leben geprägt. Denn ich habe dort gelernt, in Gemeinschaft zu leben, nicht zu jammern, stark zu sein und sich gegenseitig zu unterstützen. Das Gefühl, Freunde zu haben, zu einer Gruppe dazuzugehören, bedeutete mir viel. Und noch viel mehr.
Sie beschreiben das eher positiv. Was waren die Schattenseiten?
Positiv zu denken ist wichtig! Schattenseiten - die gab es aber natürlich auch. Ich war traurig, wenn jemand krank war, derjenige weggetragen wurde und niemand wusste, ob ich ihn jemals wiedersehen würde oder wenn jemand zum Transport antreten musste. Außerdem lebten wir in der ständigen Angst, unsere Eltern verabschieden zu müssen, wenn wieder ein Transport in den »Osten« ging. Schlimm war auch der Hunger.
Sie wurden auch schwer krank...
Ich hatte die ganze Palette an Krankheiten, die in Theresienstadt kursierten, darunter Masern, Scharlach, Typhus, Hepatitis und eine Herzmuskelentzündung. Es war sehr gefährlich, in Theresienstadt krank zu sein, denn es gab keine Medizin. Die Ärzte mussten mit den primitivsten Methoden improvisieren - bei mir etwa mit kalten Umschlägen oder Gerstenschleim.
Was gab es sonst zu essen?
Es gibt das Sprichwort: In der Not frisst der Teufel Fliegen. In Theresienstadt gab es für die Häftlinge oft nur Ersatzprodukte, wie Kaffee-Ersatz, außerdem Tee-Ersatz, Erbsen- und Linsenersatzsuppe. Und so haben die Häftlinge gewitzelt: In Theresienstadt frisst auch der Teufel nur Fliegenersatz. Nicht mal der Teufel hatte echte Fliegen zum Essen.
Ansonsten gab es in der Regel ein paar Stück Kartoffeln, etwas Steckrüben, manchmal nur gekochte Gerste. Für Schwerarbeiter wie meinen Vater und Jugendliche gab es etwas größere Essensrationen, weniger erhielten die Alten und Kranken. Mein Vater teilte aber oft das wenige Essen mit uns, das er hatte.
Wie sahen die Räume aus, in denen Sie lebten?
Wir schliefen in Stockbetten auf Strohsäcken, zum Bersten befallen mit Wanzen und Flöhen. Es juckte so stark, dass ich oft ganze Nächte nicht schlief.
Wie haben Sie an einem solchen Ort die Hoffnung nicht verloren?
Wir sagten uns gegenseitig, dass der Krieg bald vorbei sein wird und wir nicht mehr lange durchhalten müssen. Außerdem gab es Künstler und Kabarettisten, die noch Theater gespielt haben, nach der schweren Tagesarbeit. Die Nationalsozialisten tolerierten das sogar zum Teil. Wir unterstützten uns, hörten uns zu.
Sie haben eben erzählt, dass sie der Deportation nach Auschwitz entkamen - und dass der Holzhund dabei eine Rolle spielte.
Das Spielzeug, ja! Ich habe ihn Pluto getauft. Als wir in Theresienstadt ankamen, fragten die Nazis nach dem Beruf meines Vaters. Vor der Besatzung war er Leiter einer Pelzfabrik, das sagte er aber nicht. Anschließend hatte er in einer Holzwerkstatt gearbeitet. Die Nazis, wollten Beweise, für seine Arbeit als Handwerker, und da zeigte er den Holzhund, den er mir zuvor als Spielzeug gebaut hatte.
Und das rettete Ihnen das Leben?
Ja. Vater war damals im Herbst 1944 in einen Männertransport eingereiht, Mutti wollte mit mir freiwillig mitkommen - zum Glück hat es Vater untersagt. Zufällig zerstörte kurz vor Abfahrt ein Sturm das Dach eines der KZ-Gebäude, und die Lagerführung suchte nach Reparateuren. Mein Vater meldete sich freiwillig zur Arbeit. Als der Zug abfuhr, arbeitete er noch am Dach, und deshalb fuhren wir nicht mit diesem Zug - der letzte, der Theresienstadt nach Auschwitz verließ.
Hätte ich Pluto nicht mitgenommen, hätte Vater vielleicht nicht als Handwerker im Lager gearbeitet und am Ende am Dach arbeiten dürfen. Ohne den Sturm, Vaters Entscheidung, bei der Reparatur zu helfen und ohne sein Verbot freiwillig mitzukommen, säße ich heute nicht hier.
Nach mehreren Jahren in der Hölle kam die sowjetische Armee. Was blieb Ihnen aus der Zeit in Erinnerung?
Radieschen und ein Pferd. Mehr als zwei Jahre hatte ich kein Gemüse gegessen, obwohl es für die SS-Männer einen eigenen Gemüsegarten in Theresienstadt gab. Da arbeitete ich freiwillig nach der Befreiung, und als Lohn erhielt ich einen Bund Radieschen, manchmal auch Kohlrabi. Niemals werde ich den Geschmack meines ersten Radieschens vergessen. Außerdem kam eines Tages ein russischer Soldat zur Gärtnerei und hat uns Kinder einzeln auf den Sattel seines Pferdes vor sich gesetzt. Als wir durch die Gegend ritten, wusste ich: Jetzt ist das Schlechte vorbei, jetzt bin ich frei.
Wie blicken Sie auf das aktuelle Weltgeschehen?
Am meisten tut mir weh zu sehen, dass nicht einmal der Holocaust den Menschen gezeigt hat, dass wir Juden Menschen sind wie jeder andere auch. Dass der Holocaust nicht den Antisemitismus beseitigt hat. In Frankreich, in Deutschland, an US-amerikanischen Universitäten nehmen antisemitische Gewalttaten wieder zu.
Dabei haben Juden und Jüdinnen so viel zur Gesellschaft beigetragen. Wer hat die Blue Jeans erfunden? Ein Jude namens Levi Strauß. Wer hat den Kugelschreiber erfunden? Ein Jude namens László Bíró. Wer hat den Impfstoff gegen Kinderlähmung entwickelt? Jonas Salk, ein jüdischer Arzt. Wird dieser irrationale Judenhass jemals aufhören?