Social Media

Wer schützt uns?

TikTok und WeChat: Auch auf diesen Plattformen sind Fanatiker aktiv. Foto: picture alliance / NurPhoto

Es klingt wie eine rhetorische Frage: Darf man alte Menschen einfach so beleidigen? Noch drastischer: Darf man Überlebende des Holocaust verhöhnen und bedrohen? Natürlich darf man das nicht, darin sind sich vernünftige Menschen einig. Es gibt Gesetze, es gibt Regeln. Doch jedes Gesetz und jede Regel sind nur so gut wie seine oder ihre Umsetzung. Die nüchterne Antwort in der Realität lautet: Man kann das alles tun. Selbst dann, wenn man es eigentlich nicht darf. Denn fast nie hat es Konsequenzen. Es fehlt an allem, von Prävention und Aufklärung bis zur Strafverfolgung.

Der aktuelle Fall von Lily Ebert macht dies besonders deutlich. Die Auschwitz-Überlebende, ehrwürdige 97 Jahre alt, hat mit ihrem Großenkel Dov Forman gemeinsam begonnen, auf der Social-Media-Plattform TikTok über den Holocaust zu informieren. Als sie kürzlich während der Hamas-Angriffe auf Israel ihren Followern einfach nur ein friedliches Wochenende wünschte, wurde sie aus der Anonymität des Netzes heraus mit einer Flutwelle an Hass und Beleidigungen überzogen.

tiktok Nach zahlreichen Beschwerden und Medienberichten hat TikTok vergleichsweise schnell reagiert. Und dennoch: Was passiert ist, ist passiert. Eine Beleidigung ist nicht dadurch ungeschehen gemacht, dass der schriftliche Beleg verschwindet. Der Hass und die Drohungen hinterlassen eine Wirkung, die über den Moment hinausgeht. Und alle wissen: Es kann jeden Tag aufs Neue passieren. Denn es hat keine Folgen.

Nach zahlreichen Beschwerden und Medienberichten hat TikTok vergleichsweise schnell reagiert.

Eine weitere bittere Erkenntnis lautet, dass Selbstschutz praktisch unmöglich ist. Wer dem Hass im Netz entgehen will, muss die sozialen Medien meiden und verlassen. Wir Juden kennen das teilweise aus dem realen Leben. An manchen Orten und zu manchen Zeiten trauen wir uns nicht mit Kippa auf die Straße.

Uns von den sozialen Medien abzukoppeln, würde bedeuten, dass wir uns parallel sowohl aus der Öffentlichkeit als auch aus der Gesellschaft zurückziehen müssten. Wir würden uns freiwillig ins Ghetto begeben. Es wäre ein Fest für alle Antisemiten. Wir selbst werden das nicht zulassen, wir werden nicht klein beigeben.

hass Aber wir dürfen zu Recht von der Gesellschaft, von Gesetzgebern, Exekutive und auch von Medienunternehmen fordern: Schützt uns endlich besser vor diesem Hass! Gegen die Raketen der Hamas hat Israel den »Iron Dome«. Aber wo ist der Schutzschirm gegen das Bombardement mit Hass im Netz?

Wer schützt uns Juden in aller Welt davor, täglich massenhaft zur Zielscheibe der verbalen Aggression zu werden? Wo wir doch genau wissen, dass es genügend Wirrköpfe und Fanatiker gibt, die nur auf eine Gelegenheit warten, den Worten Taten folgen zu lassen.

Die Social-Media-Kanäle sind wahre Treibhäuser des Hasses.

Der Jüdische Weltkongress wird nicht müde, Politiker aller Couleur an ihre Pflichten zu erinnern und sie an ihrem Handeln zu messen. Eine mindestens so große Verantwortung haben die Social-Media-Unternehmen. In unseren Gesprächen mit Facebook, Twitter und neuerdings auch TikTok erleben wir Fortschritte. Aber noch ist zu vieles reaktiv und dient nur der Beseitigung des Giftes, das gar nicht erst in die Adern der modernen Kommunikation hätte fließen dürfen.

geschäftsmodell Die Social-Media-Kanäle sind wahre Treibhäuser des Hasses. In der emotionalen Hitze wächst die Aggression schneller, als es eine reale Umwelt zulassen würde. Die Betreiber der Plattformen kalkulieren diese emotionale Dimension grundsätzlich mit ein. Sie ist der Garant für ihre Funktionsweise. Gleichgesinnte Menschen miteinander zu verbinden, ist ihr Geschäftsmodell.

Ungelöst ist die Frage, wie dieses Geschäftsmodell funktionieren und zugleich die toxische Anreicherung von Hass und Verschwörungsmythen unterbunden werden kann. Die sozialen Medien sind eben keine geschlossenen Bereiche, sie sind immer auch Teil der Öffentlichkeit. Sie werden zitiert, kopiert, verbreitet. Keine klassische Zeitung könnte es sich erlauben, Leserbriefe zu veröffentlichen mit Inhalten, wie wir sie beim Jüdischen Weltkongress täglich in unserem weltweiten Monitoring vorfinden.

Müssen die Opfer von Straftaten generell auch noch zu Verantwortlichen der Aufklärung oder Prävention gemacht werden?

»Was schlagen Sie denn vor?«, werde ich sehr oft gefragt. Abgesehen davon, dass wir tatsächlich sehr viele Fachveranstaltungen und Praxisdialoge zum Thema »Hass im Netz« anbieten, viele Verstöße melden und Forderungen wie die nach wirksamer Strafverfolgung altbekannt sind, gibt es eine ganz einfache Antwort: Es ist schlicht nicht unser Job!

opfer Würde man von einem Einbruchsopfer Vorschläge verlangen, wie man die Täter aufspüren muss? Müssen die Opfer von Straftaten generell auch noch zu Verantwortlichen der Aufklärung oder Prävention gemacht werden? Hass, Beleidigungen und Straftaten zu verhindern, sollte vielmehr für die Anbieter und die Behörden eine Selbstverständlichkeit sein.

Keine Selbstverständlichkeit hingegen ist es, wenn mehr als 75 Jahre nach dem Holocaust Überlebende von ihren schrecklichen Erlebnissen berichten. Es ist für viele jedes Mal ein neuer Kraftakt, das Leid vor das geistige Auge zurückzuholen. Ein Kraftakt, den sie uns und der Nachwelt zuliebe auf sich nehmen. Mittlerweile erfordert es darüber hinaus immer mehr Mut, sich den damit verbundenen Anfeindungen auszusetzen. Also: Schützt auch diese Menschen endlich wirksam vor dem Hass!

Der Autor ist Geschäftsführer des Jüdischen Weltkongresses (WJC).

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