Was bleibt von diesem Tag? Einem Tag, der weniger eine Befreiung im wörtlichen Sinne war, sondern mehr ein Moment der absoluten Leere angesichts schrecklichen Bilder, die wir mit ihm verbinden. 80 Jahre nach dem Grauen der Schoa droht der Blick auf die Geschichte zu verblassen.
Wir erleben tagtäglich Relativierungen dieses unvorstellbaren Verbrechens; auch in deutschen Parlamenten. Der Gedanke ist für mich kaum erträglich, sollten diese Träger revisionistischen Gedankenguts
einmal in politische Verantwortung kommen.
Von einer anderen Seite wird indes versucht, Geschichte umzudeuten. In einem fehlgeleiteten Universalismus verhaftet werden gerade Jüdinnen und Juden immer mehr ausgeblendet. Die Vernichtung der Juden, die im Wahn der Täter zentral war, zerfasert in der Erinnerung unserer Gesellschaften zunehmend. Das gilt auch für das Land der Täter, für Deutschland.
Immer weniger Menschen mit familiärem Bezug zum NS
Dabei stehen wir 80 Jahre nach der Schoa an einer Wegmarke unserer Erinnerungskultur. Was bedeutet die Schoa heute noch für Deutschland? Was bedeutet es in einer Zeit, in der wir immer weniger Zeitzeugen der Schoa erleben? Was bedeutet es in einer Zeit, in der immer mehr Menschen in Deutschland keinen familiären Bezug zur NS-Zeit haben?
Für mich persönlich, als Mitglied der zweiten Generation von Schoa-Überlebenden und Opfern, sind das auch schmerzliche Fragen. Wir sind aufgewachsen in dem Glauben an eine Gesellschaft und eine Bundesrepublik Deutschland, die sich dem Schrecken und der unmenschlichen Grausamkeit der Schoa immer bewusst sein wird; und daraus Konsequenzen zieht.
»Ein großer Teil der jungen Generation in Deutschland blickt völlig unwissend auf die NS-Zeit.«
Doch eine steigende Indifferenz hat Folgen: 10 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat noch nie von der Schoa gehört – sie kennen auch den Begriff Auschwitz nicht –, 40 Prozent wissen nicht, dass etwa 6 Millionen Jüdinnen und Juden in der Schoa ermordet wurden, 15 Prozent sind der Meinung, dass es weniger als zwei Millionen waren. Das bedeutet, dass ein großer Teil der jungen Generation in Deutschland völlig unwissend auf diese Zeit blickt.
Solche Entwicklungen machen deutlich: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte wird politisch umkämpft. Und sie wird umso angreifbarer, je weniger Menschen noch selbst bezeugen können, was geschehen ist.
Nutzen wir also auch die Möglichkeiten der digitalen Entwicklung und erreichen auch damit mehr junge Leute. Zeitzeugengespräche können digitalisiert werden, wir können an den authentischen Orten – den KZ-Gedenkstätten – mit digitalen Modellierungen die Dimension dieses Menschheitsverbrechens sichtbar machen. Dabei muss immer gelten: Der Respekt vor den Opfern der Schoa ist handlungsleitend bei der Nutzung und Entwicklung jeder neuen Technologie und KI generierter Inhalte zur Darstellung der Schoa.
Widersprechen und handeln, wenn Geschichte verzerrt wird
Doch eine Resignation kommt nicht in Frage: Erinnern heißt nicht nur bewahren – erinnern heißt auch widersprechen und handeln, wenn Geschichte verzerrt wird. Erinnern bedeutet, sich der Frage zu stellen, wie der Mensch dem Menschen so etwas antun konnte. Und ganz einfach immer und immer wieder zu erzählen, was passierte. Die Schoa ist ein Bruch. Der Zivilisationsbruch.
Das geht uns alle an. Der Akt des Erinnerns war über lange Zeit sehr einsam: Bis 1978 wurde der Jahrestag des Pogroms am 9. November nur von Juden gedacht. Der Kampf gegen die vorherrschende Schlussstrich-Mentalität der Nachkriegsjahre wurde in erster Linie von Überlebenden und ihren Nachkommen ausgetragen. Ich möchte nicht wahrhaben, dass wir wieder auf dem Weg in diese Zustände sind.