Vatikan

Vor fünf Jahren öffnete der Vatikan seine Archive zu Pius XII. - Tausende Bittbriefe an den Papst, der öffentlich schwieg

Papst Pius XII. in den 1950ern Foto: picture alliance / Farabola/Leemage

Stuttgart im August 2024: Erstmals besucht der US-Amerikaner Peter Einstein die Heimatstadt seiner Großeltern, Elisabeth und Leo Einstein. Am Kiosk kauft er sich eine Ausgabe der »Stuttgarter Zeitung« - und fällt aus allen Wolken. Das Blatt berichtet über Forschungen zu Papst Pius XII. (1939-1958) - und erwähnt dabei Einsteins Großmutter Elisabeth.

Ein Team um den Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf war in einem Vatikan-Archiv auf ein Bittschreiben Einsteins gestoßen - und auf einen Teil der einstein’schen Familiengeschichte, von der Peter bislang nichts wusste. In dem Brief schrieb ihre Großmutter: »Wir haben drei Kinder im Alter von 17, 16 und 12 Jahren. (...) Mein Mann und meine drei Kinder sind Juden (...) Dieses und die übrigen Umstände zwingen uns, baldmöglichst [sic!] auszuwandern, und zwar nach U.S.A. - (...) Da seit dem Krieg die Passagen in ausländischer Währung bezahlt werden müssen, sind wir gezwungen, uns diese vom Ausland zu beschaffen.« Daher bitte sie um Hilfe.

Das erste Fundstück dieser Art

»Der Brief war der erste dieser Art, der mir am 5. März 2020 in die Hände fiel«, berichtete Wolf kürzlich in einer Zwischenbilanz seiner Forschungen. Am 2. März 2020 hatte der Vatikan die Archive zum Pontifikat Pius‹ XII. geöffnet. Historiker aus aller Welt waren angereist. Konnte die jahrzehntelange Debatte, warum Pius zum Holocaust geschwiegen hatte, beendet werden? Doch Fachleute warnten: Ernsthafte Ergebnisse seien erst in drei bis fünf Jahren zu erwarten.

Man könne sich der Gestalt Pacellis nur über seine Ambivalenzen nähern, schrieb der Historiker Simon Unger-Alvi Ende Dezember in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Am Deutschen Historischen Institut (DHI) in Rom leitet er ein Forschungsprojekt zu Pius XII. in der Nachkriegszeit. Als Mensch wie als Papst erscheine Pius XII. oft widersprüchlich, so Unger-Alvi: teils reaktionär, teils fortschrittlich. So habe Pius einiges für moderne Technik übrig gehabt und beim Thema Kolonialismus moderner gedacht als die damaligen Kolonialmächte England und Frankreich. Gleichzeitig war der Pacelli-Papst glühender Antikommunist.

Was teils bekannt war, belegen Funde in den Archiven. Pius XII. unterstützte gegen anfängliche Widerstände Frankreichs die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland - statt eines von Josef Stalin vorgeschlagenen neutralen geeinten Deutschlands. Gleichzeitig förderten er und Italiens Bischöfe die Gründung der »Democrazia Cristiana« gegen die italienischen Kommunisten.

Fast 10.000 Bittbriefe an Pius XII.

Das Wolf-Team entdeckte bis heute knapp 10.000 solcher Bittschreiben von Juden - verteilt in 1.100 Archivschachteln aus sechs Archiven auf rund 17.400 Seiten und in 17 Sprachen. Sie alle sollen in einer kritischen Edition öffentlich zugänglich gemacht und didaktisch aufbereitet werden, um »so die Geschichten von Menschen, die die Nazis vernichten wollten, am Leben zu erhalten«, sagt Barbara Schüler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kirchengeschichts-Lehrstuhl der Universität Münster.

Zu einem knappen Dutzend Briefe konnte inzwischen der gesamte vorhandene vatikanische Vorgang rekonstruiert werden. Dazu mussten die Forscher in den Archiven verschiedener Kurienbehörden sowie bei Botschaften, Einwanderungsbehörden und in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem recherchieren.Erste vorsichtige Ergebnisse

Als erste vorsichtige Ergebnisse nennt Wolf unter anderem: In den meisten Fällen wollten Papst und Kurie helfen, scheiterten aber oft an anderen Staaten, den Kriegswirren und der eigenen Bürokratie. Pius persönlich bekam rund ein Zehntel aller Bittschreiben zu Gesicht; an der Kurie gab es sowohl Antisemiten wie Judenfreunde. Und warum schwieg Pius zum Holocaust, obwohl er davon wusste?

Lesen Sie auch

Er habe schon bei der Ermordung von 100.000 katholischen Polen durch die Deutschen geschwiegen, sagt Wolf und zitiert aus einem Brief des Papstes an den Würzburger Bischof Matthias Ehrenfried: »Wo der Papst laut schreien möchte, legt ihm sein Amt Schweigen auf.« - »Er schweigt«, erklärt Wolf weiter, »weil er meint, über den Parteien stehen zu müssen. Jede Solidaritätsadresse an die eine oder andere Seite hätte unerwünschte Vereinnahmungen ausgelöst.«

Zu späte Rückmeldung

Und Elisabeth Einsteins Brief? Nach langem Hin und Her zwischen Kurie, dem Bistum Rottenburg-Stuttgart - die religionslose Elisabeth hatte sich 1936 taufen lassen - werden ihr irgendwann 200 Dollar Reisekosten zugesagt. Zu spät. Über das Schicksal ihres Mannes und der beiden anderen Kinder ist den Forschern nichts bekannt. »Vermutlich wurden sie ermordet«, sagt Wolf.

Allein der Sohn Kurt Werner überlebt ein KZ in Riga. Über dessen Erfahrungen konnten seine Söhne Peter und Michael Einstein dem Historiker-Team aus Münster berichten - nachdem sie erstmals von den Bemühungen ihrer Großmutter gelesen hatten, dem Holocaust auch mit Hilfe des Vatikans zu entgehen.

Belgien

Israelfeindliche Aktivisten stellen Hamas-Terror nach

Bei einem »Widerstandsfestival« in Brüssel wurde der Terror mit einem Theaterstück glorifiziert, es gab Hamas-Dreiecke; und Wassermelonen-Mandalas für Kinder

von Nils Kottmann  09.06.2025

Vatikan

Papst Leo würdigt rumänischen Kardinal und Retter Tausender Juden

Iuliu Hossu könnte ein »Gerechter unter den Völkern« werden

 09.06.2025

Antisemitismus

Rabbiner fordern Schutz nach Angriff bei Paris

Jüdisches Leben müsse endlich sicher möglich sein, so Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt

 09.06.2025

Neue Studie aus den USA

Israelhass auf dem Campus: »weniger sichtbar, radikaler, gefährlicher«

Eine neue Studie über anti-israelischen Aktivismus an US-Universitäten zeigt eine beängstigende Professionalität und Terrornähe. Aber es gibt auch Hoffnung

von Sophie Albers Ben Chamo  08.06.2025

Niederlande

Wer hat die Großeltern verraten?

Die digitale Nutzung eines Archivs zur Kollaboration mit den Nazis wurde zunächst wegen Datenschutz-Bedenken verhindert. Nun soll eine Gesetzesänderung die Öffnung ermöglichen

von Tobias Müller  08.06.2025

Aserbaidschan

Europäische Rabbiner treffen sich erstmals in muslimischem Land

Ein historischer Schritt: Die Konferenz Europäischer Rabbiner tagt 2025 erstmals in einem mehrheitlich muslimischen Land. In Aserbaidschan soll ein Zeichen für Dialog und Respekt gesetzt werden

von Hannah Krewer  06.06.2025

Krakau

»Das sind alles Linke«: Rabbiner soll Opfer des 7. Oktober »hassen«

Ein Mitglied des Europäischen Rabbinischen Zentrums stößt mit umstrittenen Aussagen bei seinen Kollegen auf Kritik

 06.06.2025

Meinung

Was man als Jude tun muss, um Donald Trump gut zu finden

Rassismus, Israel-Hass und antisemitisches Tourette-Syndrom. Wer US-Präsident Trump als Kämpfer gegen den Antisemitismus feiert, muss über allerlei hinwegsehen. Ein Resümee von Hannes Stein

von Hannes Stein  05.06.2025

Wien

Mit Courage gegen »Kellernazis«

Sie treten dem wachsenden Rechtsextremismus entgegen und wehren sich gegen Judenhass an Universitäten. Die Stadt ehrt sie nun dafür mit einem Preis. Zu Besuch bei den Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen (JöH)

von Tobias Kühn  01.06.2025