Familiendrama

Verschwunden in Moskau

Moskau oder London: Der Vater setzt sich über Gerichtsentscheide hinweg. Foto: Thinkstock

Ihre Chuppa stand in Berlin-Charlottenburg – im jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße. Es war eine klassische jüdische Hochzeit, und mehr als 300 Gäste sahen am 10. Februar 2005 zu, als Ilja N. seiner Angetrauten Rachael R. den Ring an den Finger steckte.

Nur wenige Wochen vorher waren die beiden Wirtschaftswissenschaftler einander vorgestellt worden – ein Zuwanderer aus Moskau und eine Amerikanerin, die sich sehr bald darauf zur Heirat entschlossen. Yitshak Ehrenberg, orthodoxer Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, amtierte bei der Zeremonie. Und als der Bräutigam das Glas zertrat, war niemand im Saal, der Rachael und Ilja nicht alles Glück der Welt gewünscht hätte. Das junge Paar lebte zunächst in Wien, dann in Zürich und in London; in fünf Jahren wurden drei Söhne geboren.

rosenkrieg Doch die Ehe scheiterte, und seit fast einem Jahr tragen Ilja und Rachael einen erbitterten Kampf vor Gericht sowie in der englischsprachigen und russischen Presse um ihre beiden älteren Söhne aus. Die 37 Jahre alte Mutter, die nach dem Urteil eines Londoner Gerichts das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht hat, sagt, ihr Exmann habe David (7) und Joel (5) (Namen von der Redaktion geändert) nach einem zweiwöchigen Urlaub nicht, wie abgesprochen, am 7. Januar 2013 zu ihr zurückgebracht, sondern nach Moskau »entführt« – unter Mithilfe von Iljas Mutter, die eigentlich in Berlin lebt, sich aber nun in Russland zusammen mit ihrem Sohn um die Enkel kümmere.

Seit rund drei Wochen ist der Vater für seine frühere Frau und für Nachfragen der Medien nicht mehr erreichbar. Auf der Website von Interpol werden David und Joel – mit Fotos – als vermisst geführt.

»Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält. Möglicherweise ist er nicht mehr in Moskau, sondern irgendwo anders in Russland. In Berlin ist er wahrscheinlich nicht, eine Ausreise wäre ihm zu riskant«, sagt die Mutter, die seit fast einem Jahr ohne ihre älteren Söhne in London lebt.

Des Falls hat sich inzwischen auch die Europäische Rabbinerkonferenz (CER) angenommen. Mehr als 70 europäische Rabbiner, darunter Pinchas Goldschmidt, der Präsident der CER und Oberrabbiner in Moskau, unterzeichneten Anfang November bei einem Treffen in Berlin einen Brief an Wladimir Putin, in dem der Präsident der Russischen Föderation aufgefordert wird, sich für die Rückführung der Kinder zu ihrer Mutter einzusetzen.

»Wir, die Rabbiner der Europäischen Rabbinerkonferenz, schreiben an Sie aus tiefer Besorgnis um das Schicksal zweier jüdischer Brüder«, heißt es in dem Brief. Ilja N. sei im März 2011 von einem englischen Gericht in seinen elterlichen Rechten beschränkt worden, weil er gegen seine Frau und seine Kinder gewalttätig geworden sei. Nach dem Urteil des Londoner Gerichts dürfe nur Rachael N. über den Aufenthaltsort der Kinder bestimmen.

Dennoch habe die Mutter einem Umgang des Vaters mit seinen Söhnen nicht widersprochen – was Ilja N. genutzt habe, um die zwei Jungen, die die russische Staatsbürgerschaft besitzen, illegal in Moskau zurückzuhalten. »Die internationale jüdische Gemeinschaft geht davon aus, dass diese Kinder dank Ihrer Intervention nicht zu Waisen einer lebenden Mutter werden«, schließt der Brief der Rabbiner vom 10. November.

urteil Wenige Tage später fällte ein städtisches Moskauer Berufungsgericht ein wegweisendes Urteil: Am 20. November wandten russische Richter erstmals die Haager Konvention zu Kindesentführung von 1996 an, die Russland im Juni dieses Jahres und Großbritannien im November 2012 ratifiziert hatte. Der Klage von Rachael N. wurde stattgegeben: Das Moskauer Gericht entschied, dass David und Joel zu ihrer Mutter nach London ausreisen müssen. Der britische Fernsehsender BBC zeigte eine in Tränen aufgelöste Mutter, die ihrer Freude über das Urteil Ausdruck verlieh – und einen ernst wirkenden Vater, der eine »einvernehmliche Lösung auf der Grundlage von Kompromissen« vorschlug.

Seitdem ist Ilja N., der Mitte September einem Interview prinzipiell zugestimmt hatte, nicht mehr zu erreichen. Die »Jüdische Allgemeine« konnte trotz mehrmaliger Versuche weder per E-Mail noch über Facebook oder unter seiner bisher bekannten Mobilfunknummer mit ihm Kontakt aufnehmen. In der Schule in Moskau, die die beiden Jungen seit mehreren Monaten besuchten, fehlten David und Joel seit gut drei Wochen, sagt Rachael N.

Nur wenige Telefonate mit ihren Söhnen seien ihr seit Januar 2013 von ihrem Ex-Mann zugestanden worden, beklagt die Mutter, und alle seien kontrolliert worden: »Wenn ich ihnen sagte, dass ich sie liebe, war sofort die Leitung tot. Oder Ilja hat ihnen Comics gezeigt und Nachtisch angeboten, um sie von mir abzulenken.«

Das letzte Mal, so Rachael N., habe sie David und Joel am 7. November auf dem Bildschirm ihres Computers gesehen – während eines mit Ilja abgestimmten Skype-Gesprächs. Seitdem: Nichts. Polizei und Gericht seien über Ilja N.s Verschwinden informiert. Doch das scheint in Moskau derzeit nicht weiterzuhelfen. »Ich fühle mich wie in einem Krieg«, sagt die orthodoxe Jüdin. »Unsere Familie ist durch Ungerechtigkeit und Grausamkeit auseinandergerissen worden. Aber ich habe keine Wahl. Ich muss durchhalten, bis ich meine Kinder wieder bei mir habe. Und ich bete dafür jeden Tag.«

machtspiele Charlotte Dunner, Administratorin der Europäischen Rabbinerkonferenz in London, sagte dieser Zeitung: »Ich bin überzeugt davon, dass Rachael N. unter Gewalt ihres Ehemannes gelitten hat. Das war einer der Gründe, warum sie ihren Get (Scheidebrief) in London sehr schnell bekommen hat.«

Sehr engagiert in dem Familiendrama ist auch Nechama Ehrenberg, die Frau des Berliner Rabbiners Yitshak Ehrenberg. Am 16. Oktober, sagt die Rebbetzin, habe sie lange mit Ilja telefoniert – auf ihre Bitte hin per Skype. »Aber ich vermute, dass er absichtlich dafür gesorgt hat, dass er mich auf dem Bildschirm sehen konnte – und ich ihn nicht«, sagt Ehrenberg. Während des Telefonats habe Ilja sein Leben mit Rachael in rosigen Farben geschildert und erklärt, er wolle seiner Ex-Frau die Chance geben, in Moskau zu leben, damit sie die Kinder sehen könne, und ihr Arbeit und Wohnung beschaffen. »In Wirklichkeit geht es ihm nur darum, Machtspiele zu spielen«, ist Nechama Ehrenberg überzeugt.

Eindruck auf den Vater hat nach Ansicht der Rebbetzin der Brief der europäischen Rabbiner an Putin gemacht: »Das hat ihm Angst eingejagt. Er ist anscheinend ein Mensch, der nur die Sprache der Macht versteht.« Ihr gehe es vor allem um das Wohl der Kinder, betont Nechama Ehrenberg: »Ich befürchte, dass sie schwere psychische Schäden davontragen werden, wenn sie ohne ihre Mutter und nur bei diesem Vater aufwachsen.«

grosseltern Der Großvater von David und Joel, Wadim N., sagte der Jüdischen Allgemeinen auf Anfrage, es treffe zu, dass seine Frau Irina M. sich seit einiger Zeit in Moskau um den Haushalt ihres Sohnes und um ihre Enkel kümmere. »Es geht ihnen gut. Sie lieben ihren Vater und ihre Babuschka, sie wollen nicht zur Mutter zurück«, so Wadim N. Die Lebensumstände der Kinder seien von russischen Behörden kürzlich überprüft und nicht beanstandet worden. Dennoch wünscht sich auch Wadim N. nichts lieber als eine konstruktive Lösung zum Wohl seiner Enkel: »Ich möchte keine Show, das würde die Kinder nur traumatisieren«, sagt der Großvater.

Zu wünschen wäre eine baldige Lösung auch dem jüngsten Familienmitglied. Denn während Rachael N. in Moskau nach ihren älteren Söhnen sucht, vermisst auch der jüngste Sohn seine Mutter – der Zweijährige wird von seiner Großmutter mütterlicherseits in London betreut. Doch ob es für die drei Brüder ein Jahr nach ihrer unfreiwilligen Trennung ein baldiges Wiedersehen geben wird, scheint derzeit völlig offen.

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