Antisemitismus

Tabu gebrochen

Entfernung von antisemitischen Schmierereien an der Dresdener Synagoge, 8. November 2009 Foto: dpa

Es hätte sich angeboten, den ersten Bericht des Expertenkreises Antisemitismus am 9. November vorzustellen. Doch statt die Befunde der zehn unabhängigen Fachleute am Jahrestag der Judenpogrome von 1938 öffentlich zu präsentieren, stellte das Bundesinnenministerium die Expertise erst zwei Tage später still und heimlich auf seine Internetseite.

Dabei sind die zentralen Botschaften des im Jahr 2009 vom Vorvorgänger des Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU) einberufenen Gremiums alles andere als harmlos. Von einer »tiefen Verwurzelung von klischeehaften Judenbildern und antisemitischen Einstellungen in der deutschen Kultur und Gesellschaft« ist in dem 210 Seiten starken Bericht die Rede, von einer »alltäglichen Ausgrenzung, Diffamierung, Beschimpfung und Boykottierung« der Juden in Deutschland. Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung könne man als antisemitisch bezeichnen, schreiben die Experten um den Londoner Zeithistoriker Peter Longerich und die Berliner Antisemitismusforscherin Juliane Wetzel weiter. Sie befürchten eine »bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitete Gewöhnung an alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken«.

Belege Zwar ist es alles andere als neu, dass Antisemitismus sich nicht nur auf rechtsextreme Milieus beschränkt, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft weit verbreitet ist. Das Verdienst des Berichts liegt denn auch eher darin, zahlreiche Belege zusammengetragen zu haben, wie und wo sich dieser Alltagsantisemitismus heute manifestiert: in Fußballvereinen und Schulen, bei der Freiwilligen Feuerwehr, in Leserbriefspalten der Zeitungen, in der Kneipe, in Internetblogs, aber auch in Kirchen oder unter Linken und Globalisierungskritikern sowie in Migrantenmilieus. Auf den Schulhöfen gehöre »Du Jude« als Schimpfwort »vielerorts fast schon zum Allgemeingut«, quasi als Synonym für »Du Opfer«. Vor allem in den unteren Fußballligen seien Beleidigungen jüdischer Spieler und Angehöriger jüdischer Mannschaften Teil des Alltags in Deutschland. In der Regionalliga könne man immer wieder Sätze wie »Synagogen müssen brennen« hören.

Tabu Offenbar, so schreibt das Gremium, dem neben Wissenschaftlern auch Praktiker von Initiativen gegen Antisemitismus sowie ein aktueller und ein ehemaliger Verfassungsschützer angehören, gilt das lange Zeit geltende Tabu öffentlicher antisemitischer Äußerungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht mehr – oder zumindest nur noch eingeschränkt. Dabei komme Judenfeindlichkeit heute oft im Gewand einer einseitigen, antisemitisch unterfütterten Israelkritik daher. Oder in Form eines »Schuldabwehr-Antisemitismus«, der den heute lebenden Juden unterstellt, sie würden die Erinnerung an den Holocaust für ihre eigenen Vorteile ausnutzen. Schlecht schneiden in dem Bericht des »Expertenkreises Antisemitismus« die Schulen ab. Im Unterricht würden Juden fast ausschließlich als Opfer präsentiert, das Thema Antisemitismus fast nur mit Bezug auf den Holocaust behandelt. Damit erscheine Judenfeindlichkeit als ein »ausschließlich den Nationalsozialisten zuzuordnendes Phänomen, das 1933 quasi aus dem Nichts erschien und 1945 wieder verschwand«.

Medien Sehr zurückhaltend ist das Gremium bei der Beantwortung einer Frage, die vor allem die Medien verstärkt umtreibt: Wie weit verbreitet ist Antisemitismus unter arabisch- und türkischstämmigen Migranten und Muslimen? Gemeint sind auch hier nicht nur die offen judenfeindlichen Milieus der Islamisten, sondern die Mitte der Community. Eine Antwort vermögen die Autoren allerdings nicht zu geben: »Bis heute fehlen für Deutschland belastbare wissenschaftliche Befunde über die tatsächliche Verbreitung antisemitischer Stereotype unter Muslimen.« Überhaupt gebe es kaum »empirische Ergebnisse zum Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft« – also auch nicht darüber, wie stark Judenfeindlichkeit etwa unter Spätaussiedlern verbreitet ist.

Die wissenschaftliche Zurückhaltung wird von den Experten jedoch mit einer kontroversen Forderung verbunden: Die Polizei solle bei der Statistik über antisemitische Straftaten den Migrationshintergrund in »aussagekräftigen Kategorien« erfassen, um mehr Klarheit zu bekommen. Die Politik kommt in dem Bericht übrigens auch nicht gut weg. Das ernüchternde Fazit der Experten: »Eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland existiert nicht.«
Diesen Satz wollte man in der Bundesregierung dann vielleicht doch nicht an einem 9. November öffentlich zu hören bekommen.

Bundestag

Zentralrat verteidigt Weimers Gedenkstättenkonzept

Der Ausschuss für Kultur und Medien hörte Experten zu der Frage an, ob über den Holocaust hinaus auch andere Verbrechen Teil der deutschen Erinnerungskultur sein sollen

 19.12.2025

Frankreich

Drei Jahre Haft für antisemitisches Kindermädchen

Ein französisches Gericht hat eine Algerierin zur einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie einer jüdischen Familie Reinigungsmittel ins Essen, Trinken und die Kosmetika mischte

 19.12.2025

Berlin

Bericht über Missbrauch internationaler Hilfe durch Hamas im Bundestag vorgestellt

Olga Deutsch von der Organisation NGO Monitor sagt, während die Bundesregierung über Beiträge zum Wiederaufbau Gazas berate, sei es entscheidend, auf bestehende Risiken hinzuweisen

von Imanuel Marcus  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

»Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben«, schreibt Rafael Seligmann

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Faktencheck

Berichte über israelischen Pass Selenskyjs sind Fälschung

Ukrainische Behörden ermitteln wegen hochrangiger Korruption. Doch unter diesen Fakten mischen sich Fälschungen: So ist erfunden, dass bei einer Razzia ein israelischer Pass Selenskyjs gefunden wurde

 19.12.2025

Tel Aviv/Berlin

Israel unterzeichnet weiteren Vertrag mit Deutschland über Raketenabwehr

Es handelt sich um das größte Rüstungsgeschäft in der Geschichte des jüdischen Staates

 19.12.2025

Sydney/Canberra

Nach Terroranschlag von Bondi Beach: Australien plant nationalen Trauertag

Die Regierung kündigt zudem umfassende Maßnahmen an. Dazu gehört eine landesweite Rückkaufaktion für Schusswaffen

 19.12.2025

New York

Antisemitische Äußerungen: Mitglied von Mamdanis Team tritt zurück

Die Tiraden von Catherine Almonte Da Costa sorgen für Entsetzen

 19.12.2025

Belgien

IS droht mit Anschlägen auf Synagogen und Kirchen

Die Hintergründe

 18.12.2025