Rosch Haschana

Stolz und unverzagt

Bilder eines Jahres: 5772 war geprägt von positiver Entwicklung, aber auch von Angriffen auf jüdisches Leben hierzulande. Foto: (M) Frank Albinus

Jüdisches Leben ist garantiert nie langweilig. Das haben wir 5772 wieder einmal erlebt – im positiven, zum Teil aber auch im negativen Sinne. Wir durften uns über das aufblühende jüdische Leben in der Bundesrepublik und über einen von gegenseitiger Achtung geprägten Dialog mit vielen nichtjüdischen Partnern freuen. Allerdings waren wir auch – dieses Jahr vielleicht sogar in besonderem Maße – Anfeindungen und einem besorgniserregenden Mangel an Verständnis von Teilen der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt.

Auf der positiven Seite der Bilanz sind vor allem Fortschritte bei der Entwicklung unserer Gemeinden und Einrichtungen zu vermerken. Dank des neuen Staatsvertrages zwischen dem Zentralrat und der Bundesregierung – dafür gebührt der Bundesregierung und dem Bundestag unsere Anerkennung – konnte der Zentralrat den Ausbau seiner Rolle als jüdisches Kompetenzzentrum kraftvoll in die Wege leiten. Dies nicht zum Selbstzweck, sondern als Mittel, jüdisches Leben noch erfolgreicher als bisher zu festigen, zu fördern und zu vernetzen.

»Runder Tisch« Ein sichtbarer Ausdruck dieser Entwicklung war der Anfang Juni nach achtjähriger Unterbrechung wieder durchgeführte Gemeindetag, bei dem 240 Vertreter jüdischer Gemeinden in Hamburg zusammenkamen und sich dort informieren, vor allem aber viele Kontakte knüpfen oder erneuern konnten. Wir werden diese Veranstaltung, die uns alle stärkt, von jetzt an viel häufiger erleben und dabei weiterhin sowohl Generationen als auch unsere verschiedenen jüdischen Strömungen zusammenführen. Mit dem »Runden Tisch«, an dem wir erstmals etwa 40 jüdische Organisationen im Zentralrat versammelt haben, die wir gemeinsam unterstützen wollen, haben wir ebenfalls ein starkes Zeichen von ganz neuem Engagement gesetzt.

Die Vorbereitungen für die Errichtung einer Jüdischen Akademie sind 5772 erheblich fortgeschritten. Wir hoffen, dass diese Einrichtung ihren Betrieb bald aufnehmen wird und jüdische Bildungs- und Informationsarbeit auf Bundesebene wie auch in den Gemeinden und im jüdischen Erziehungswesen um eine neue Dimension bereichern kann. Auch die vom Zentralrat intensiv geförderte Ausbildung von Rabbinern ist ein großer Pluspunkt in unserem jüdischen Leben.

Die positiven Beispiele ließen sich fortführen. Allerdings dürfen wir auch das Negative, das uns insbesondere in den letzten Monaten entgegenschlug, nicht außer Acht lassen. Nicht etwa, weil wir gern klagen, sondern weil wir doch häufig spüren, dass zwar sehr oft von Toleranz die Rede ist, sie aber dann, wenn es darauf ankommt, immer wieder fehlt. Daher müssen wir stets bereit sein, den damit einhergehenden Herausforderungen mit Entschlossenheit, Besonnenheit und einer gut durchdachten Strategie zu begegnen.

Brit Mila Einen existenziellen Angriff auf unser Recht auf freie Religionsausübung mussten wir im Frühsommer erleben, als nach dem Urteil des Kölner Landgerichts die Debatte über die Beschneidung losbrach, und viele – zu viele – hierzulande sich berufen fühlten, in den Chor empörter und verletzender Ignoranz einzustimmen. Im kommenden Jahr werden wir auch weiterhin alles in unserer Kraft Stehende tun, um das Recht auf die Brit Mila felsenfest zu verankern.

Wir Juden brauchen ganz bestimmt keine Nachhilfe und Belehrung, wenn es um die Liebe zu unseren Kindern geht. Unser Vertrauen in die Politik, gerade auch bei diesem sensiblen Thema vernünftig und verantwortungsbewusst zu entscheiden, ist ungemindert. Trotzdem zeigt sich hier, wie wichtig und geradezu unverzichtbar unser kraftvolles politisches Engagement bleibt. Damit ist sicher auch in Zukunft zu rechnen.

Doch als wäre diese Debatte mit ihren hässlichen Untertönen nicht schon Herausforderung genug, mussten wir Ende August die Nachricht eines niederträchtigen Angriffs vernehmen. Der brutale Überfall auf Rabbiner Daniel Alter in Berlin im Beisein seiner Tochter war Ausdruck von purer Menschenfeindschaft, die Motivation reiner Antisemitismus. Viele Stimmen der Solidarität und Anteilnahme regten sich. Dafür sind wir dankbar.

Doch müssen hier auch Taten folgen. Stärkeres Handeln, deutlichere Positionierung und glasklare Ächtung der Täter – das erwarten wir nun von Behörden, Politikern, Religionsverbänden und der gesamten deutschen Gesellschaft.

Denn Antisemitismus bedeutet immer Menschenhass, ganz gleich, von welcher Seite er kommt. Die zunehmenden verbalen oder auch immer öfter auftretenden physischen Angriffe auf uns Juden hierzulande sind zugleich ein Angriff auf ganz Deutschland, auf unsere gemeinsamen Werte von Freiheit, Vielfalt und Toleranz. Niemand darf dies dulden. Und wir werden eine Toleranz der Intoleranz nicht länger akzeptieren.

Olympia An Verständnis fehlte es aber auch an anderer Stelle: Denn als besonders enttäuschend haben wir alle die kalte Weigerung empfunden, bei den Olympischen Spielen in London mit einer Gedenkminute an die vor 40 Jahren ermordeten israelischen Sportler zu erinnern. Die vereiste Seelenlosigkeit des Olympischen Komitees in dieser Frage wird kein Mensch, der ein Herz im Leibe hat, jemals verstehen können.

Das Engagement für Israel bleibt natürlich immer stark und unerschütterlich. »Israel-Bashing« ist viel zu sehr in Mode gekommen. Ein düsteres Beispiel war etwa das von Günter Grass fabrizierte antiisraelische »Gedicht« – in Wahrheit ein Dokument von Hass und Hetze gegen den jüdischen Staat. Es sei laut und deutlich klargestellt: Israel ist ein Teil von uns und wird es immer bleiben. Auch im Jahr 5773 kann sich der jüdische Staat stets auf uns verlassen.

Ich weiß, dass wir allen Herausforderungen, die auf uns zukommen, auch gewachsen sind, gerade der vielen Menschen wegen, die sich in unseren Reihen ehrenamtlich derartig eindrucksvoll engagieren. Ihnen gilt mein ganz besonders großer Dank.

Werte Eines ist gewiss: Auch für das neue Jahr gilt, wir, die jüdische Gemeinschaft, lassen uns bestimmt nicht einschüchtern. Unsere Religion, unsere Bräuche und unsere jüdischen Werte werden wir nicht verstecken und gerade nicht ins Hinterzimmer verbannen lassen. Wir setzen bewusst kein Signal von Resignation – sondern von resoluter Zuversicht. Weder unsere Motivation noch unser Optimismus für ein starkes, stolzes Judentum in Deutschland ist gemindert. Gemeinsam und unverzagt werden wir auch künftig ein kraftvolles jüdisches Leben hierzulande selbstbewusst und dynamisch aufbauen und entschlossen zu behüten wissen.

Ich wünsche allen Mitgliedern unserer Gemeinden und allen unseren Freunden von Herzen ein gutes, gesundes und erfolgreiches neues Jahr. Schana towa umetuka.

Dortmund

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