NS-Zeit

Spurensuche in Jena

Es ist ein nasskalter Tag. Der Historiker Marc Bartuschka zieht den Kragen seiner Jacke höher und blickt über den kargen Sportplatz in Jena-Ost. »1943 war hier auch schon ein Sportplatz. 1944 hatte man dann die Idee, darauf Baracken für ausländische Zwangsarbeiter zu bauen«, sagt er. Die Baracken wurden errichtet, doch man nutzte sie für die »Zwangsverpflichteten« der Organisation Todt, benannt 1938 nach dem späteren Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Fritz Todt. Der Organisation oblag das Management der paramilitärischen Bautruppe, die zunehmend aus »deutsch-jüdischen Männern« bestand, die meisten kamen aus dem Raum Berlin.

Unter ihnen war auch Helmut Coper, später Professor an der Freien Universität Berlin. Seit 1933 als Sohn eines jüdischen Vaters verfolgt, wurde er 1944 nach Jena geschickt, um als Tiefbauhilfsarbeiter in der Organisation zu arbeiten. Aus seinem Umfeld tauchen später weitere Namen auf: Otto H. Hess und Horst W. Hartwich, die vermutlich in Zerbst (Sachsen-Anhalt) Zwangsarbeit leisteten.

recherchen Coper übersteht den harten Arbeitseinsatz in Thüringen, wird aber später kaum ein Wort darüber verlieren und sich nach 1945 der Wissenschaft widmen. Er gehört zu den Gründungsstudenten der FU Berlin, wird der erste Inhaber des Lehrstuhls für Neuropsychopharmakologie und engagiert sich für die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen. 2013 stirbt Coper.

Nur wenige Namen lassen sich heute klar recherchieren. Es gibt kaum Material und kein Personenverzeichnis. Hin und wieder taucht ein Hinweis im Zusammenhang mit der Organisation Todt in Jena auf. »In Jena und dem benachbarten Rothenstein könnten 300 bis 500 Personen mit jüdischem Hintergrund Zwangsarbeit geleistet haben«, schätzt Marc Bartuschka.

Zu ihnen gehörte auch Georg Wehr. Der Name des – wie es damals im Nazi-Jargon hieß – »jüdisch versippten« Mannes taucht im Buch Mod Helmy – Wie ein arabischer Arzt in Berlin Juden vor der Gestapo rettete von Igal Avidan auf. Der Autor recherchierte Georg Wehrs Lebensweg, der zu seiner jüdischen Familie stand und deshalb von der Organisation Todt zur Arbeit in Thüringen eingeteilt wurde. »Wir wissen, dass er nach Jena kam, um dort zu arbeiten. Und wir wissen, dass er überlebte und auch wieder nach Berlin zurückkam«, fand Igal Avidan dabei heraus. Doch das ist alles. Auch in Jena ließen sich bislang keine weiteren Spuren oder Belege finden.

werkstätten Woran liegt das? »Ich bin zufällig auf Berichte von zwei ehemaligen Insassen gestoßen«, sagt Marc Bartuschka. »Es hatte bis dahin nie einen ausführlichen Bericht über dieses Lager gegeben.« Die Aussagen stammen von einem Mann, der mit einer jüdischen Deutschen verheiratet war, und von einem weiteren, der ein jüdisches Elternteil hatte. Kurz nach dem Krieg erzählten beide von ihrer Zeit in Jena. Es war der Beginn einer Recherche, die nicht allen gefiel, sagen heute manche Stimmen. Dennoch: Die Stadt Jena lege großen Wert darauf, die dunklen Seiten der Geschichte offenzulegen.

Es geht um knapp 14.000 zivile ausländische Zwangsarbeiter, die während des Nationalsozialismus in Jenaer Unternehmen, kleinen wie großen, eingesetzt waren. »Sie waren während der zweiten Kriegshälfte allgegenwärtig, ebenso die Lager«, sagt Bartuschka und macht klar: »Aus dem Stadtbild waren sie nicht wegzudenken.«

In den Werkstätten von Carl Zeiss waren Zwangsarbeiter tätig, ebenso im Jenaer Glaswerk Schott & Gen. Bei Zeiss in Jena war 1943 jeder dritte Arbeiter ein Ausländer, ergab die Statistik, aufgearbeitet von Historikern. Im Februar 1944 zählte man 4150 ausländische Arbeitskräfte, mehr als 1000 waren sogenannte »Ostarbeiter«.

dokumente »Die größte Gruppe kam aus Belgien«, berichtet Wolfgang Wimmer, der als wissenschaftlicher Archivar des Unternehmens Zeiss in Jena die historischen Dokumente betreut. »Aber auch Franzosen und Russen waren damals im Unternehmen eingesetzt.« Dennoch: »Die Quellenlage zu den Zwangsarbeitern ist generell sehr dürftig«, bemerkt Wimmer.

Das dürfte einen Grund haben. Das Thema wiegt schwer für die Erinnerungskultur einer Gesellschaft, aber auch für Unternehmen – egal, welche bundesdeutschen, etablierten und im Zweiten Weltkrieg als »wichtig« eingestufte Firmen man an dieser Stelle nennen könnte.

Ob in der DDR eine Aufarbeitung stattfand oder gar Entschädigungen gezahlt wurden? Wolfgang Wimmer kennt keinen Vorgang in den Akten. Es gab in den 90er-Jahren Anfragen und auch später konkrete Kontakte, unter anderem aus den Niederlanden. Aus der DDR-Zeit lasse sich hingegen kein Dokument dieser Art finden. Zwar wisse man heute mehr als noch vor zehn oder 15 Jahren, sagt Bartuschka.

archive Denn Archive – auch das der DDR-Staatssicherheit – seien aufschlussreich. Man könne zum Beispiel Belege finden, in denen im Fall von Gewalt gegen frühere Insassen von Ermittlungen und Strafen die Rede sei.

Bekannt ist aber auch, dass sich die DDR-Regierung nicht grundsätzlich überschlug, um das Thema »NS-Zwangsarbeit« in den öffentlichen – und damit in den eigenen politischen – Fokus zu rücken. Man richtete damals vielmehr den wissenschaftlichen Blick auf Konzerne mit Sitz im Westen.

»Das heißt, die vergleichsweise früh einsetzende DDR-Forschung hatte auch immer eine politische, ideologische Funktion zu erfüllen«, sagt Rüdiger Stutz, Stadthistoriker in Jena. »Sich mit Zwangsarbeitern in einem späteren Volkseigenen Betrieb (VEB) zu beschäftigen, geschah immer unter Vorbehalt.«

Es galt die Prämisse, ehemaligen Zwangsarbeitern möglichst keinen Anlass für Entschädigungen zu bieten. »Diese Angst, dass etwa polnische, ukrainische, russische Menschen Forderungen an Betriebe in der DDR stellen könnten, hat zu einer nur selektiven Aufarbeitung geführt.« Genau hier wird die Arbeit der Historiker auch in den nächsten Jahren weitergehen müssen.

ringelnatter Blickt man auf die Industrie der Stadt, die Feinmechanik und Optik von Zeiss sowie das Glaswerk Schott & Gen., so wird klar, hier ging es in den 30er- und 40er-Jahren um Rüstung, Kriegswirtschaft und Flugzeugindustrie. »Jena war besonders für die Ausrüstung mit optischen, feinmechanischen Geräten für alle drei Wehrmachtsteile von überregionaler Bedeutung«, so Rüdiger Stutz.

1944 beschäftigte den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, und den Reichsführer SS Heinrich Himmler noch etwas anderes: Die rüstungsrelevante Industrie sollte verlagert werden. Man wollte unter Tage produzieren, um aus der Luft »unsichtbar« und damit vor Angriffen geschützt zu sein.

Genau an dieser Stelle kommt die Organisation Todt nochmals ins Spiel und damit auch die zwangsverpflichteten Arbeitskräfte. Ein erster Aktenvermerk, den Marc Bartuschka fand, stammt vom 1. November 1944 und listet drei Bauvorhaben auf. Dafür benötige man, so heißt es, 370 Mann: »Da könnte man ›jüdische Mischlinge‹ nehmen.« Die Bauvorhaben mit den Tarnnamen »Schnäpel« und »Albit« bezogen sich auf Zeiss, das Projekt »Ringelnatter« auf das Unternehmen Schott & Gen.

schlussbericht »Es gibt Unterlagen dazu, Baubesprechungen und einen Schlussbericht«, erläutert Wolfgang Wimmer mit Blick auf die Zeiss-Akten. Unklar sei jedoch, wer wirklich in den Bauvorhaben tätig war. Gehörten Männer wie Georg Wehr dazu? Oder Helmut Coper? Von ihm etwa ist überliefert, dass er einen Ausweis von Schott & Gen. besaß.

»Ob er letzten Endes auch an Baumaßnahmen bei Zeiss teilgenommen hat, ist nicht auszuschließen«, meint Wolfgang Wimmer. Man könne lediglich davon ausgehen, dass Coper im Lager auf dem damaligen und heutigen Sportplatz gelebt habe, vermutet hingegen Marc Bartuschka. »Wäre er im Zeiss-Lager III oder in der Baracke in der Mühlenstraße untergebracht gewesen, hätte er nicht den von ihm später geschilderten langen Marsch durch die Stadt zur Arbeit gehabt.«

Die Spurensuche ähnelt einem noch sehr unvollständigen Puzzle, und es stellt sich bei jedem Detail die Frage: Warum ist hier noch nicht längst aufgearbeitet und geforscht worden? War das Interesse zu gering? Die Scham zu groß?

brücke Die Produktionsstätten von Zeiss unter Tage wurden übrigens später verfüllt. Heute erinnert nichts mehr daran – ebenso wenig wie an die Organisation Todt in Jena. Erhalten geblieben ist lediglich ein Baudenkmal: die gigantische Saaletalbrücke –eine der größten Natursteinbogenbrücken. »Am 18. August 1939 ließ es sich Fritz Todt nicht nehmen, persönlich das weiße Band auf der Brücke zu durchfahren, wenige Wochen, bevor die Panzer in Polen einfielen«, sagt Rüdiger Stutz. Ob diese Brücke von Zwangsarbeitern erbaut wurde, lässt sich heute weder bestätigen noch widerlegen.

Aus der Sicht von Historikern jedenfalls haben Dienstverpflichtete aus den Reihen des Reichsarbeitsdienstes daran gebaut. Im Stadtarchiv sind einzelne Fotos aus der Bauphase zu finden, die belegen: Es muss ein Publikumsmagnet gewesen sein.
»Von der Organisation Todt ist nicht viel erhalten geblieben«, sagt Marc Bartuschka mit Blick auf die Zwangsarbeiter, »damals wurde wenig schriftlich fixiert.« Zudem werde vermutet, dass, kurz bevor die alliierten Truppen einrückten, Material versteckt, verbrannt oder als unwichtig angesehen und dann vernichtet worden ist.

»Die Arbeiter waren auch nicht unmittelbar bei Zeiss und Schott angestellt, sondern wurden innerhalb der Organisation in Unternehmen geschickt.« Fakt ist: Ende 1944 umfasste die Organisation 1.360.000 Arbeitskräfte, darunter eine Million Kriegsgefangene aus Frankreich und der Sowjetunion. Hinzu kamen 22.000 KZ-Häftlinge, ausländische Zivilarbeiter und 14.000 deutsche Arbeiter – Männer, die als wehruntauglich eingestuft worden waren.

Historiker bestätigen, aus den Anfangsjahren gebe es Dokumente und damit noch eine »gute Quellenlage«. Schwierig werde es hingegen bei den letzten Projekten gegen Ende des Krieges, als die Organisation Todt für viele Bauvorhaben eingesetzt wurde, ebenso wie für die unterirdische Verlagerung von Produktionsstätten oder Bunkerbauten und Kommandozentralen.

Bauingenieur Fritz Todt kam übrigens bei einem Flugzeugabsturz 1942 ums Leben. 1933 hatte er die Verantwortung für den Bau der Reichsautobahnen übernommen. Auch die Strecke Berlin–Frankfurt gehörte dazu, und somit entstand in Jena als Teilstück die symbolträchtige Brücke.

nachbarn Es sei wichtig, »sich zu vergegenwärtigen, wie breit das Phänomen der Zwangsarbeit war und wie viele unterschiedliche Gruppen betroffen waren: ausländische Zivilisten aus halb Europa, KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, Justizhäftlinge, aber eben auch Männer, die jüdische Wurzeln hatten oder mit einer Jüdin verheiratet waren«, sagt Marc Bartuschka.

Viele von ihnen – ob 18 oder 60 Jahre alt – mussten Schwerstarbeit unter widrigen Bedingungen leisten und nicht selten den Einsatz mit ihrem Leben bezahlen. Bartuschka interessiert: Wie ging die deutsche Bevölkerung mit den Zwangsarbeitern in der Nachbarschaft um? »Manche halfen, brachten Lebensmittel, andere misshandelten, denunzierten und schlugen aus nichtigen Anlässen.« Einige seien dafür nach 1945 vor Gericht gekommen, »aber vergleichsweise wenige«. Niemand sei gezwungen worden, Zwangsarbeiter zusammenzuschlagen, wenn sie schlecht gearbeitet hatten. »Aber sie taten es.«

An das Lager am Sportplatz in Jena-Ost erinnert heute nichts mehr. Reste eines alten Metallzaunes ragen aus einer kleinen felsigen Anhöhe, und ein altes verwittertes Steinmonument gibt Rätsel auf. Anhand einer Skizze und einer Luftbildaufnahme kann man erahnen, wo früher die Baracken standen. Überliefert ist, dass sich die Latrinen nebenan am Bach befanden.
»Das große Bild haben wir inzwischen. Was wir oft nicht wissen: wie allgegenwärtig Zwangsarbeiter wirklich im Stadtbild 1942 und 1943 waren und wie das Schicksal von einzelnen Personen und Gruppen in den Lagern aussah. Wir sprechen über Hunderte. Wie aber verlief der Lebensweg einer Frau, die vielleicht mit 16 oder 17 Jahren aus der Ukraine kam? Das aufzuarbeiten, wird schwierig.«

aufarbeitung Bei Zeiss hat man hingegen das Schicksal von Hugo Schrade aufgearbeitet: Zwangsarbeiter der Organisation Todt, »jüdisch versippt«, wie es hieß. Er lebte in Jena, arbeitete bei Zeiss. Weil Schrade mit einer Jüdin verheiratet war, musste er auf Befehl zum Arbeitseinsatz nach Naumburg und Bunker für Flakstellungen graben.

Seine Frau wurde in das KZ Theresienstadt deportiert. Sie überlebte. Und mit viel Glück gelang es dem Ehemann, erzählt Wolfgang Wimmer, sie und andere Insassen nach der Befreiung zurück nach Jena zu holen. Für Hugo Schrade ging die Zeit bei Zeiss weiter. Er wurde Bevollmächtigter der Stiftung, später Generaldirektor des Kombinats in Jena. Heute ist eine Straße nach ihm benannt.

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