Meinung

Sich als Opfer ermächtigen

Soziologe Harald Welzer am 8. Mai bei »Anne Will«: in der Sache daneben Foto: IMAGO/Jürgen Heinrich

Meinung

Sich als Opfer ermächtigen

Deutsche Intellektuelle schwafeln über die angeblichen Lehren aus deutscher Kriegserfahrung

von Achim Doerfer  22.05.2022 08:21 Uhr

Etliche deutsche Intellektuelle haben offenbar auf diese Debatte gewartet. Bis wohin sollen die Ukrainer sich wehren? Ja, tragen sie gar eine Verantwortung, dass die Sache nicht eskalieren möge? Manche behaupten, dies verlange der Ukraine ab, den rechten Zeitpunkt nicht zu verpassen, in dem die Waffen zu strecken seien – gemessen am Maßstab deutschen Dafürhaltens natürlich.

Warum die Deutschen das wissen? Angeblich wegen ihrer eigenen Kriegserfahrungen in den Familien, so der Soziologe Harald Welzer, Unterzeichner des offenen Briefes von Alice Schwarzer, am 8. Mai bei Anne Will. Das liegt neben der Sache. Aus zwei Gründen.

Einmal: Die deutschen Erfahrungen sind in der angerufenen Pauschalität Tätererfahrungen. Ein echter Existenzkampf in einer Notwehrsituation – das ist nicht ernsthaft Teil deutscher oder noch immer im Individuum virulenter Erfahrungen. Zweitens: Solche Äußerungen scheinen einer schiefgelaufenen Erinnerungskultur zu entspringen, die in »wir« und »die« unterteilt. So wie es Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai 1985 noch getan hatte – eine Rede, die Welzer als richtige Perspektive präsentiert.

SELBSTERMÄCHTiGUNG Verdrängt wird da jede Diskussion um die Wehrhaftigkeit der Opfer – doch darum und um deren Motive muss es zuerst gehen. »Nie wieder« muss heißen: nie wieder Wehrlosigkeit. Das jedenfalls war die Lehre der Opfer, umgesetzt in der Selbstermächtigung von Juden einschließlich der Gründung eines wehrhaften Staates, der Selbst­ermächtigung auch von Homosexuellen, Sinti und Roma!

Das ist kein Feld, in dem nur kühler Utilitarismus herrschen darf. Opfer haben nie gefragt: Können wir das gewinnen, und wenn nicht, sollen wir alle Hoffnung fahren lassen und uns schlicht ergeben – mit derselben Konsequenz, zum Mordopfer zu werden, die uns auch bei Gegenwehr ereilen könnte? Nein, das lehren uns auch deutsche Erfahrungen, wenn auch nicht aus der täterhaften Mehrheitsgesellschaft.

»Nie wieder« muss heißen: nie wieder Wehrlosigkeit.

Das lehren uns die Erfahrungen jüdischer Deutscher, der Menschen im Widerstand, in der militärischen Gegenwehr, die bereit waren, den Protest mit KZ-Aufenthalt zu bezahlen. Nicht nur auf deutschem Boden. »Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen«, rief der Wilnaer Partisanenführer Abba Kovner am 1. Januar 1942, 19 Tage vor der Wannsee-Konferenz, den Seinen zu.

Auch in den alliierten Armeen kämpften Juden und Jüdinnen, in der französischen Résistance, in der internationalen Brigade im spanischen Bürgerkrieg, in den Partisanengruppen Mittel-Osteuropas, in Shanghai gegen Japan. Sich wohl bewusst, dass das eine »Eskalation« bedeutete – es kümmerte sie nicht. Konnten sie sicher sein, militärisch, technokratisch zu gewinnen? Überhaupt nicht. Warum taten sie es dennoch? Weil der Sinn des Menschen in solch einer Situation nicht darin besteht, nach militärischen Erfolgsgarantien zu schauen.

Da leitet Höheres, was uns schon die Zeilen der Artikel eins und zwei des Grundgesetzes lehren: Menschenwürde und Freiheit. Das ist im Krieg den Angegriffenen, den Opfern, ein Menschenrecht, sie müssen entscheiden, wie sie um Würde und Freiheit kämpfen wollen. Weil nur dies, und da kommen wir tatsächlich zu militärischen Nützlichkeitserwägungen, den eigentlich Machtlosen dann doch Macht verleiht. Dort ist die Erfahrung aus der deutschen Geschichte zu finden: dass der übermächtig scheinende Täter auch mithilfe derer, die scheinbar nur zum Sterben verdammt sind, besiegt werden kann.

Bedrückend vor dem Hintergrund deutscher Geschichte sind auch die Versuche einer Verengung des Blicks auf die Täter. Bundeskanzler Scholz sprach am 27. Februar schon von »Putins Krieg«, Putin im Gegensatz zum russischen Volk. Ein Muster, bekannt aus Jahrzehnten deutschen Wunschdenkens nach 1945. Natürlich ist nicht das gesamte russische Volk in Haftung. Aber das hört sich an, als hätte die wenigstens zuletzt wirkmächtige Täterforschung in Deutschland nie stattgefunden.

Konsequenz Wo einfach Frieden um jeden Preis ersehnt wird, gilt: Die Konsequenz der deutschen historischen Aggression war nicht einfach die Ächtung militärischer Gewalt, sondern die Ächtung des Angriffskrieges als Menschheitsverbrechen. Verkörpert ist das etwa im Nestor des Völkerstrafrechts, Ben Ferencz: Sohn jüdischer Einwanderer, geboren in New York, als Soldat unter den Ersten in Konzentrationslagern, Chefankläger im alliierten Einsatzgruppenprozess, maßgeblich beteiligt an der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes.

Nach alledem: Sich als Opfer ermächtigen zu dürfen, dem Angriffskrieg auf ein ganzes Volk entgegenzutreten – das ist die Lehre aus der deutschen Geschichte.

Achim Doerfer ist Anwalt und Publizist. Zuletzt erschien »Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen« (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 368 S., 24 €).

Australien

Polizei: Angreifer in Sydney waren Vater und Sohn 

Weitere Details des judenfeindlichen Terroranschlags werden bekannt

von Denise Sternberg  14.12.2025

Hintergrund

Der Held von Sydney

Laut australischen Medien handelt es sich um einen 43-jährigen muslimischen Vater von zwei Kindern, der einen Laden für lokale Produkte betreibt

 14.12.2025

Jerusalem

Israels Regierungschef wirft Australien Tatenlosigkeit gegen Judenhass vor

Nach einem Anschlag in Sydney fordert Netanjahu von Australien entschlosseneres Handeln gegen Judenhass. Er macht der Regierung einen schweren Vorwurf

 14.12.2025

Kommentar

Müssen immer erst Juden sterben?

Der Anschlag von Sydney sollte auch für Deutschland ein Weckruf sein. Wer weiter zulässt, dass auf Straßen und Plätzen zur globalen Intifada aufgerufen wird, sollte sich nicht wundern, wenn der Terror auch zu uns kommt

von Michael Thaidigsmann  14.12.2025

Meinung

Blut statt Licht

Das Abwarten, Abwiegeln, das Aber, mit dem die westlichen Gesellschaften auf den rasenden Antisemitismus reagieren, machen das nächste Massaker nur zu einer Frage der Zeit. Nun war es also wieder so weit

von Sophie Albers Ben Chamo  14.12.2025 Aktualisiert

Anschlag in Sydney

Felix Klein: »Von Terror und Hass nicht einschüchtern lassen«

Zwei Männer töten und verletzen in Sydney zahlreiche Teilnehmer einer Chanukka-Feier. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung äußert sich zu der Tat

 14.12.2025

Terror in Sydney

Zivilist entwaffnet Angreifer und wird als »Held« gefeiert

Zwei Männer schießen auf Teilnehmer einer Chanukka-Feier in Sydney: Es gibt Tote und Verletzte. Ein Video soll nun den mutigen Einsatz eines Passanten zeigen

 14.12.2025

Australien

Merz: »Angriff auf unsere gemeinsamen Werte«

Bei einem Anschlag auf eine Chanukka-Feier in der australischen Metropole gab es viele Tote und Verletzte. Der Bundeskanzler und die Minister Wadephul und Prien äußern sich zu der Tat

 14.12.2025 Aktualisiert

Terror in Sydney

Zentralrat der Juden: »In Gedanken bei den Betroffenen«

Der Zentralrat der Juden und weitere jüdische Organisationen aus Deutschland äußern sich zu dem Anschlag auf eine Chanukka-Feier im australischen Sydney

 14.12.2025 Aktualisiert