Hamburg

Prozess gegen Bruno D.

Bruno D. vor dem Hamburger Landgericht Foto: dpa

Großer Andrang. Fernsehteams und Reporter tummeln sich im Strafjustizgebäude in der Hamburger Innenstadt. Das Interesse der Medien am Prozessauftakt ist riesig. Ein 93-jähriger Angeklagter, dem Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen wird. Vielleicht der letzte Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Täter in Deutschland.

Aus New York ist Ben Cohen angereist. Der Enkel der Holocaust-Überlebenden Judy Meisel steht in den Fluren des Gerichtsgebäudes und gibt Interviews. Meisel hat das KZ Stutthof überlebt und gehört zu den 36 Nebenklägern, die sich dem Verfahren gegen SS-Wachmann Bruno D. angeschlossen haben. »Ihre Mutter – meine Urgroßmutter – wurde dort in der Gaskammer am 21. November 1944 ermordet«, sagt Cohen vor Prozessbeginn.

Vor drei Jahren hatte Judy Meisel gegenüber deutschen Ermittlern zu den Zuständen im Konzentrationslager, das sie überlebte, ausgesagt. Der Prozess heute sei für seine Großmutter ein wichtiges Zeichen, sagt Ben Cohen. »Sie wünschte, sie könnte hier sein.« Für sie ist nun ihr Enkelsohn nach Hamburg gereist. Er will mit eigenen Augen verfolgen, wie sich einer der Aufseher von damals heute einem Gerichtsprozess stellen muss. »Solange Täter am Leben sind, ist es wichtig, sie zur Rechenschaft zu ziehen«, meint Cohen.

VORSICHTSMASSNAHME Noch bevor Bruno D. den großen Saal 300 des Hamburger Landgerichts betritt, macht die Vorsitzende Richterin einige organisatorische Ansagen an die Zuhörer. Im Fall, dass D. kollabieren sollte, müssten alle so schnell wie möglich den Saal verlassen. Reine Vorsichtsmaßnahmen. Richterin Anne Meier-Göring tritt bestimmt auf, spricht deutlich. Sie wünscht sich ein »extra diszipliniertes« Verhalten aller Beteiligten. Sie hat ein Interesse an einem sauberen, fairen Verfahren. Die historische Bedeutung ist ihr bewusst.

Als der Ex-SS-Schütze aus dem Gericht gefahren wird, salutieren ihm Rechtsextremisten.

Dann schiebt ein Justizwachtmeister den 93-Jährigen in einem Rollstuhl in den Saal. Bruno D. trägt Hut und Sonnenbrille, vor sein Gesicht hält er sich eine rote Pappmappe. Begleitet wird er von seiner Frau und anderen Angehörigen. Eine seiner Töchter sitzt während der Verhandlungen neben ihm.

Im Zuhörerraum sitzt Efraim Zuroff. Der Direktor des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Center schaut zufrieden in Richtung des Angeklagten. Warum solche Prozesse heute noch wichtig seien? »Was in Halle passiert ist, ist schon alleine ein Grund«, sagt Zuroff. »Außerdem sendet ein solcher Prozess eine Nachricht: Wenn man solche Verbrechen begeht, muss man vielleicht auch viele Jahre später noch dafür bezahlen.«

Wofür sich Bruno D. nun nach 74 Jahren noch verantworten muss, verliest Ankläger Lars Mahnke. Beihilfe zum Mord in mindestens 5230 Fällen wird dem Hamburger vorgeworfen. Die Zahl setzt sich aus den Opferzahlen von drei Mordmethoden im KZ Stutthof zusammen. Von August 1944 bis April 1945 ermordeten die Deutschen dort 30 Menschen mit Genickschüssen, 200 ermordeten sie mit dem Giftgas Zyklon B, 5000 Menschen starben an einer Typhus-Epidemie.

anklage Beihilfe zu diesen Mordtaten geleistet zu haben, so lautet die Anklage, die Oberstaatsanwalt Mahnke vorträgt. Er hat sich in der Anklageschrift beschränkt auf die durch Zeugenaussagen und Sachverständige nachweisbaren Todesopfer. In Wahrheit dürften weitaus mehr Menschen in jener Zeit in Stutthof ums Leben gekommen sein.

Was im Gerichtssaal keiner mitbekommt: Vor dem Justizgebäude marschieren an den ersten beiden Prozesstagen Neonazis auf. Als der ehemalige SS-Schütze Bruno D. nach der Verhandlung aus dem Gericht gefahren wird, salutieren Rechtsextremisten dem Greis. Sie zollen dem Mann Respekt für seinen Dienst in einem mörderischen System.

Dass der Stutthof-Prozess 2019 eine besondere Bedeutung hat, macht auch Richterin Meier-Göring deutlich.

Dass der Stutthof-Prozess 2019 eine besondere Bedeutung hat, macht auch Richterin Meier-Göring deutlich. Sie betont die Wichtigkeit des Prozesses – angesichts »neonationalsozialistischer Tendenzen in Deutschland« heute. Für die Nachwelt wird der Gerichtsprozess auf Tonband festgehalten. Aus historischen Gründen.

OPFER Der Angeklagte versinkt in seinen Aussagen in Selbstmitleid. An vieles kann er sich nicht mehr erinnern – oder will sich nicht mehr erinnern. Gegenüber dem Staatsanwalt hatte Bruno D. noch im letzten Jahr sehr umfangreich ausgesagt, auch dass er von den Morden in der Gaskammer damals wusste. Der Prozess belaste ihn sehr, erklärt er nun. »Jetzt wird das alles wieder wachgerüttelt«, klagt D. dem Gericht. »So hab’ ich mir mein Alter nicht vorgestellt.« Richterin Meier-Göring weist den Angeklagten darauf hin, wer die tatsächlichen Opfer sind.

Aufschluss geben über den Alltag im KZ sollte dem Gericht der ehemalige polnische Widerstandskämpfer Marek Dunin-Wasowicz, heute 93 Jahre alt. Die Gaskammer sei ein offenes Geheimnis gewesen, Exekutionen waren jedem im Lager bekannt, er habe sie oft mit eigenen Augen verfolgen müssen. Die Vorsitzende Richterin lässt den Stutthof-Überlebenden auch über die »verfahrensrelevanten« Berichte hinaus aussagen. Sie geht einfühlsam mit dem 93-jährigen Opfer um, lässt ihm Zeit zu erzählen. Er glaube »an die Gerechtigkeit des hohen Gerichts«, sagt der KZ-Überlebende. »Ich suche keine Rache.«

»Gibt es etwas, was sie vom Angeklagten wissen wollen?«, fragt Richterin Meier-Göring abschließend. »Ich bin nicht neugierig«, entgegnet Dunin-Wasowicz lapidar.

Glosse

Auf, auf zum bewaffneten Kampf!

Eine deutsche Komikerin wechselte am Wochenende wieder einmal das Genre. Enissa Amani versuchte allen Ernstes, rund 150 Berlinern zu erklären, dass Nelson Mandela das Vorgehen der Hamas gegen Israel gutgeheißen hätte

von Michael Thaidigsmann  19.11.2025

Stuttgart

Polizei plant Großeinsatz bei Maccabi-Spiel

Vor den Europa-League-Auftritten gegen Maccabi Tel Aviv sind der VfB Stuttgart und der SC Freiburg alarmiert. Ein Fan-Ausschluss wie zuletzt in Birmingham ist momentan nicht geplant

 19.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  19.11.2025

Kommentar

Danke, Berlin!

Die Entscheidung der Behörden, einem Hamas-Fanboy die Staatsbürgerschaft zu entziehen, sendet ein unmissverständliches und notwendiges Signal an alle Israelhasser. Mit Mahnwachen allein können wir die Demokratie nicht verteidigen

von Imanuel Marcus  19.11.2025

München

LMU sagt Veranstaltung zu palästinensischer Wissenschaft ab

Die Universität verwies in ihrer Stellungnahme darauf, dass es erhebliche Zweifel gegeben habe, »ob es sich um eine wissenschaftliche Veranstaltung auf dem erforderlichen Niveau gehandelt hätte«

 19.11.2025

Internet

Expertin: Islamisten ködern Jugendliche über Lifestyle

Durch weibliche Stimmen werden auch Mädchen von Islamistinnen verstärkt angesprochen. Worauf Eltern achten sollten

 19.11.2025

Portrait

Die Frau, die das Grauen dokumentieren will

Kurz nach dem 7. Oktober 2023 gründete die israelische Juristin Cochav Elkayam-Levy eine Organisation, die die Verbrechen der Hamas an Frauen und Familien dokumentiert. Unser Redakteur sprach mit ihr über ihre Arbeit und ihren Frust über die Vereinten Nationen

von Michael Thaidigsmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Riad/Istanbul

Scheinbar doch kein Treffen zwischen Witkoff und Hamas-Führer

Es geht um die Umsetzung der nächsten Schritte des Trump-Plans. Den zentralen Punkt der Entwaffnung der Hamas lehnt die Terrororganisation ab

 19.11.2025 Aktualisiert