20. Januar 1942

Organisiertes Verbrechen

Das Haus der Wannsee-Konferenz ist seit 1992 Gedenk- und Bildungsstätte. Sie zog bislang mehr als 1,4 Millionen Besucher an. Foto: Gregor Zielke

Es war so schnell vorbei, dass es sogar Heydrich und Eichmann überraschte. Nicht einmal zwei Stunden hatte es gedauert, bis das Ziel erreicht war: Die Verantwortung für die »Judenpolitik« lag unwiderruflich in den Händen der SS. Niemand hatte Einspruch erhoben, als Reinhard Heydrich die Federführung für sich und seinen Vorgesetzten, den Reichsführer SS Heinrich Himmler, festschrieb. Denn genau darum ging es am 20. Januar 1942 am Wannsee.

Hier wurde nicht etwa der Massenmord beschlossen oder gar verkündet. Die Ministerialbeamten, Offiziere und SS-Generäle, die Heydrichs Einladung zur »Besprechung mit anschließendem Frühstück« gefolgt waren, wussten längst, dass die Zeit der Vertreibung vorbei war.

Deportation Jetzt erschossen Einsatzkommandos in Russland Zehntausende, im Herbst hatten die Deportationen begonnen, und im Osten baute man nicht nur riesige Lager, sondern experimentierte mit Gas. Das Ziel hieß Judenvernichtung. Worum es vor 70 Jahren im Gästehaus der SD ging, war also eine Machtdemonstration.

Der Inszenierungscharakter allerdings unterscheidet die Wannsee-Konferenz nicht von interministeriellen Treffen ganz anderer Zeiten. Dass Politik vornehmlich zu offiziellen Terminen stattfindet, ist zwar eine elegante, aber eher romantische Vorstellung.

Die Machtfrage in der »Judenpolitik« jedenfalls war längst auf anderer Ebene entschieden. Seit Monaten hatten Heydrich und Himmler alles getan, um die Verhältnisse zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Seit Juli besaßen sie ein Schreiben von Hermann Göring, das Heydrich zum Chef-Planer der »Gesamtlösung der Judenfrage« machte. Aber ein Papier ist nicht genug, wenn ein Ressort so prestigeträchtig ist. Es ging um viel Geld und Einfluss und nicht zuletzt um ein Anliegen Adolf Hitlers. Alle wollten dem »Führer« gefällig sein.

Zwangsarbeit Der Angriff auf die Sowjetunion schuf Begehrlichkeiten und damit Konflikte. Das Auswärtige Amt nutzte die neue Entwicklung für aktive »Judenpolitik« außerhalb Deutschlands und renommierte mit dem wahnwitzigen Madagaskar-Plan. Alfred Rosenberg, Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, spekulierte auf Gewinne durch Entrechtung und Zwangsarbeit. Hans Frank, der Generalgouverneur in Polen, sah die Chance, sich durch Radikalität zu profilieren; er hatte im Eifer des Gefechts sogar Eichmann die Verhaftung angedroht, sollte der sich je wieder in Franks Einflussgebiet blicken lassen.

Derartiges Kompetenzgerangel löst man nicht an einem Tag und schon gar nicht unter Staatssekretären. Himmler ging deshalb andere Wege. Er schuf nicht nur Fakten, sondern initiierte Sondierungsgespräche mit der Konkurrenz. Unzählige Treffen, hier ein Zugeständnis, da ein eingeforderter Gefallen, aber zur Not auch Repressalien.

Hans Frank, der sich partout nicht überzeugen lassen wollte, fand sich unversehens in einem handfesten Skandal wieder: Sein Protegé Karl Lasch stand im Verdacht, hemmungslos korrupt zu sein, und hatte außerdem seine Doktorarbeit abgeschrieben. Dass ihm auch noch ein Verhältnis mit Franks eigener Frau nachgesagt wurde, die – natürlich! – teure Kleider schätzte, machte die Vorwürfe gefährlich. Sogar ein Mann wie Frank, immerhin Hitlers persönlicher Rechtsanwalt, ließ sich einschüchtern.

Protokoll Als Himmler die Peinlichkeiten zur rechten Zeit beim »Führer« platzierte, blieb sogar diesem Konkurrenten nichts anderes übrig, als den Freund fallenzulassen und sich Himmlers Kooperation bei der Schadensabwicklung durch Wohlverhalten zu erkaufen. Auch sein Vertreter wird auf der Wannsee-Konferenz entsprechend brav zu Protokoll geben, »dass die Lösung der Judenfrage im Generalgouvernement federführend beim Chef der Sicherheitspolizei und des SD (also Heydrich) liegt und seine Arbeiten durch die Behörden des Generalgouvernements unterstützt würden«.

Das Bild von der »entscheidenden Sitzung« war schon 1942 gewollt. Die Konferenz sollte das Ende der Konkurrenz symbolisieren und damit möglichst verewigen. Adolf Eichmann fällt noch 1961 in einen feierlichen Duktus, wenn er über diese »Machtvollkommenheitserweiterung« spricht.

Dass Heydrich ihn mit dem neuzugeschnittenen Referat IVB4 als seinen Judenreferenten inthronisierte, war auch deshalb einer der größten Momente in Eichmanns Karriere, weil seine zentrale Position der sichtbare Ausdruck einer neuen interministeriellen Komplizenschaft war. Wen wundert es, dass Heydrich auch ihn mit einem Cognac feierte.

Auch Erinnerung braucht unvermeidlich Symbole so wie Gedenktage, um Geschichte wie unter einem Brennglas greifbar zu machen. Mahnen wird Erinnerung aber nur dann, wenn wir bei den Bildern nicht stehenbleiben. Bilder nämlich nützen immer auch dem Verdecken, und keiner wusste das besser als die Regisseure der Konferenz. »Hoffentlich«, schrieb Eichmann in Jerusalem seinem Verteidiger, »hält sich das Gericht bei der Wannsee-Akte auf.« Denn wer der Symbole gedenkt, spricht nicht mehr von den Taten.

Die Autorin ist Historikerin und Verfasserin verschiedener Bücher. Zuletzt erschienen: »Eichmann vor Jerusalem – Das unbehelligte Leben eines Massenmörders«.

München

Alte Synagoge feiert Wiedereröffnung

Nach jahrelanger Restauration soll die Bauhaus-Synagoge wieder im Glanz von 1931 erstrahlen

 15.09.2025

Madrid

Israelfeindliche Demonstranten blockieren Vuelta á España erneut

60 Kilometer vor dem Ziel steht eine Gruppe von Protestierern mit einem Banner auf der Straße. Das Rennen musste abgebrochen werden

 15.09.2025

Musik

Nach Antisemitismus-Eklat: Bundeskanzler Merz äußert sich zur Ausladung von Lahav Shani

Die Hintergründe

 14.09.2025

Essay

Ausweg Palästina

Große Teile der Linken sind mit der Komplexität der Gegenwart überfordert. Orientierung suchen sie ausgerechnet im Hass auf den jüdischen Staat. Mit progressiver Politik hat das wenig zu tun

von Jessica Ramczik, Monty Ott  13.09.2025

Sachsenhausen

120 Minuten Holocaust

Angesichts des grassierenden Antisemitismus sollen Schüler zum Besuch einer NS-Gedenkstätte verpflichtet werden. Doch was kann eine Führung vor Ort tatsächlich bewirken?

von Mascha Malburg  13.09.2025

Brüssel

»Gegen EU-Grundwerte«: Kommission verurteilt Festival

Eine Sprecherin der Europäischen Kommission hat den Boykott der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani in die Nähe von Antisemitismus gerückt und scharf verurteilt

von Michael Thaidigsmann  12.09.2025

Belgien

»Ruf unseres Landes beschmutzt«: Premier rügt Gent-Festival

Premier Bart de Wever kritisiert die Leiter eines belgischen Festivals dafür, die Münchner Philharmoniker und ihren Dirigent Lahav Shani ausgeladen zu haben

 12.09.2025

Berlin

Humboldt-Universität will gegen Antisemitismus vorgehen

Präsidentin Julia von Blumenthal sieht ihre Hochschule für künftige Auseinandersetzungen rund um den Nahost-Konflikt gut vorbereitet

von Lukas Philippi  12.09.2025

Kommentar

Die Genozid-Lüge

Wie die Hamas nach dem 7. Oktober vom Täter zum Opfer wurde – und Israel zur Verkörperung des Bösen schlechthin

von Stephan Lehnstaedt  12.09.2025