Bilanz

Noch viel zu tun

Schwarz-rot-goldenes Herz bei der »EinheitsEXPO« in Brandenburgs Landeshauptstadt Potsdam Foto: imago images/Martin Müller

Der jüdische Blick der nun hinter uns liegenden Tage der Umkehr zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur ist ein kritischer: Wen haben wir im Sauseschritt unseres ach so geschäftigen Alltags vergessen, wen haben wir aus scheinbar gutem Grund beleidigt oder ihm sonst wie wehgetan?

Da lesen wir in diesen Tagen Bilanzen von 30 Jahren deutscher Einheit, ja, die Bundesregierung hat einen Bericht zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt. Grund genug für einen jüdischen Blick auf diesen Prozess.

niveau Zunächst ein Blick nach innen: Vor 30 Jahren war jüdisches Leben in der DDR aufsprießend, freilich auf niedrigem Niveau, denn neben der Gemeinde in Ost-Berlin gab es nur wenig intaktes jüdisches Leben andernorts, in Leipzig, in Dresden, in Erfurt.

In Brandenburg gab es bestenfalls eine Handvoll jüdischer DDR-Bürger. Anders in den späten 80er-Jahren in Ost-Berlin: jüdische Initiativen wie »Wir für uns«, dann der legendäre »Jüdische Kulturverein« und schließlich die Initiativen jüdischer Aktivisten für eine Zuwanderung der von Antisemitismus bedrohten Juden aus der UdSSR.

Verglichen damit, ist in den vergangenen 30 Jahren nur die Zahl jüdischer Gemeinden exponentiell gestiegen. Hier könnte man also im Rückblick sagen: Es ist gelungen, auf den noch aus der DDR vorhandenen Grundlagen neues jüdisches Leben aufzubauen, auch an vielen Orten, an denen gänzlich neu angefangen werden musste.

amtsbrüder Verglichen mit der Zeit vor 30 Jahren, als West-Berliner Kultusbeamte wie Oberkantor Estrongo Nachama oder Rabbiner Ernst Stein ihre zahlenmäßig wenigen Amtsbrüder in der DDR ganz wesentlich unterstützt haben, kann man doch feststellen: Jüdisches Gemeindeleben in den östlichen Bundesländern hat zu den westlichen Bundesländern nahezu aufgeschlossen. Wenn man im Rahmen dieser positiven Bilanz etwas Kritisches anmerken müsste, dann ist es die Altersstruktur der Gemeindemitglieder – aber das trifft Ost wie West gleichermaßen.

Der Blick nach außen ist wesentlich komplizierter, denn das gesellschaftliche Leben in den östlichen Bundesländern im Ganzen ist wesentlich stärker von rechtsradikalen Tendenzen, Organisationen und Personen beeinträchtigt als im Westen.

30 Jahre deutsche Einheit mit jüdischem Blick ist keine Bilanz, die man auf Hochglanz drucken wollte.

Dass die liberale Partei, in der Ignatz Bubis sich engagierte und verortete, einmal ein in einem Bundesland führendes Mitglied haben könnte, das sich von einer Fraktion zum Ministerpräsidenten wählen lässt, die von einer Person geführt wird, die rechtsradikal durchdrungen ist, belegt auf eigene Weise die politische Labilität selbst von den in Landtage gewählten Funktionsträgern. Dass es dann aber auch zunächst spontanen Applaus von Liberalen aus dem Deutschen Bundestag gegeben hat, belegt, dass der Osten auch hier nicht so fern vom Westen ist, wie das der Bericht der Bundesregierung suggerieren mag.

halle Klar, Halle, der geplante und versuchte Zivilisationsbruch mit dem Anschlag auf die Synagoge, liegt im Osten, aber Hanau mit den ermordeten Mitmenschen liegt im Westen. Bitter ist im Bericht zur deutschen Einheit der Bundesregierung zu lesen, es gebe anhaltende Unterschiede zwischen alten und neuen Ländern: »Das gilt für die Bewertung der Demokratie und der politischen Institutionen, bei Einstellungen zu etwas Fremdem oder der Verbreitung rechtsextremistischer Orientierungen.«

Fest etablierte Protestformen wie die Pegida-Aufzüge in Dresden oder als Wutbürger beschönigte Neonazis, Virusleugner und sogenannte »Reichsbürger« an der Bundesstraße 96 belegen, dass Volksverhetzung und rechtsradikales Gedankengut nicht hinter vorgehaltener Hand geflüstert, sondern offen praktiziert werden.

Freilich war die Demonstration gegen die Corona-Schutzmaßnahmen mit dem versuchten Sturm auf die Reichstagstreppe eher von Baden-Württemberg aus organisiert als aus den neuen Ländern – will heißen, auch hier gibt es beklagenswerte Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West.

entgleisungen Bleiben die für Juden alarmierenden verbalen Entgleisungen der Linkspartei auf ihrem Parteitag, freilich nicht im Osten, sondern in Kassel, wo eine Delegierte sich in stalinistischer Tradition zu Erschießungen bekannte: »Und auch, wenn wir das eine Prozent der Reichen erschossen haben …«, während Bernd Riexinger zwar wohl witzelnd repliziert, aber sich doch scheinbar zu Zwangsarbeit bekennt: »Ich wollt’ noch sagen, wir erschießen sie nicht, wir setzen sie schon für nützliche Arbeit ein.«

Das Gegenbild dazu liefern Bodo Ramelow von derselben Partei, der in Erfurt auch mal unangekündigt als Bürger eine Chanukkafeier der Jüdischen Landesgemeinde besucht, oder der Berliner Kultursenator Lederer, der in Berlin jüdisches Leben auch durch persönliche Kontakte fördert.

Sachsens Michael Kretschmer setzt positive Zeichen, wenn er unmittelbar nach Amtsübernahme nicht nur das Gespräch mit den Bürgern seines Freistaates sucht, sondern auch in die jüdische Gemeinde Dresdens kommt, um seine zuvor als Abgeordneter gemachten Kontakte in neuer Position fortzusetzen.

30 Jahre deutsche Einheit mit jüdischem Blick ist keine Bilanz, die man auf Hochglanz drucken wollte: Aus den wenigen kleinen Lichtblicken, die in der DDR noch jüdisches Leben aufrechterhielten, sind keine blühenden Landschaften geworden, aber doch Leuchttürme, die den Weg in eine hellere Zukunft weisen – und der Blick auf den Westen zeigt, es gibt überall noch viel zu tun.

Der Autor ist Historiker und Rabbiner in Berlin sowie Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland (ARK).

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