Meinung

Nie wieder Opfer!

Arye Sharuz Shalicar Foto: imago

Meinung

Nie wieder Opfer!

Aus der Geschichte gibt es für uns Juden nur eine Konsequenz: stark, selbstbewusst und souverän sein

von Arye Sharuz Shalicar  02.08.2020 18:30 Uhr

In der sechsten Klasse besuchte ich mit meiner Schulklasse eine Anne-Frank-Ausstellung in Berlin-Spandau. Ich schaute mir Anne Frank an. Ich schaute mir den gelben Stern auf ihrer Brust an.

Die ganze Atmosphäre in der Ausstellung wirkte ziemlich düster und traurig. So negativ, dass es mich fast schon nervte, denn als Elfjähriger will man bei gutem Wetter draußen Fußball spielen und nicht auf einer bedrückenden Ausstellung abhängen. Zudem hatte ich keinen Bezug zum Holocaust, dem jüdischen Volk, ganz zu schweigen vom Schicksal Anne Franks. Es war einfach nicht Teil meiner Lebenswelt.

Mein Schutz waren muslimische Freunde, die mich vor anderen Muslimen verteidigten.

Meine Eltern wollten nicht, dass ich mich schon so früh mit der schrecklichen Vergangenheit auseinandersetze. Sie wollten, dass ich modern, säkular, frei aufwachse. Ich wusste nicht einmal, dass Anne Frank und ich etwas gemeinsam haben. Ich hatte keinen Schimmer, dass ich Anne Frank hätte sein können, wenn ich 50 Jahre vorher in Deutschland geboren worden wäre.

IRAN Meine Eltern glaubten, dass Antisemitismus ein Begriff der Vergangenheit war, zumal in Deutschland, nach dem Massenmord an den Juden. Doch sie täuschten sich. Denn kaum im Alter eines Teenagers angekommen, musste ich in Berlin-Wedding um mein Leben kämpfen.

Warum? Weil ich der einzige Jude unter Hunderten Muslimen war, von denen mich leider nicht wenige, wenn sie könnten, auf der Stelle umgebracht hätten. Mein Schutz war nicht wie im Fall von Anne Frank eine Familie, die mich versteckt hält, sondern muslimische Freunde, die mich vor anderen Muslimen verteidigten.

Plötzlich war ich derjenige mit dem Stern auf der Brust. Ohne, dass ich es wollte. Ohne, dass ich es provoziert hätte. Mein Umfeld sah in mir von heute auf morgen nicht mehr Sharuz oder den iranischstämmigen Jungen oder den guten Fußballer, den man in seinem Team haben will, sondern nur noch den Juden.

Hunderte antisemitische Anfeindungen ließ ich über mich ergehen. Doch irgendwann war Schluss damit. Ich wehrte mich.

So erging es wahrscheinlich auch Anne Frank damals. Plötzlich Feind. Obwohl weder sie noch ich irgendjemandem etwas Böses angetan haben. Feind, weil wir als Juden geboren wurden. Eigentlich absolut krank. Eigentlich. Aber knallharte Realität. Damals wie heute.

Hunderte antisemitische Anfeindungen ließ ich über mich ergehen. Mir blieb keine andere Wahl, als Teil der »Parallelgesellschaft« zu werden. Ich zog mich so an wie sie. Ich sprach wie sie. Ich war sie!

»JUDEN« Doch am Ende, nach all den Jahren, war ich für einige nach wie vor nur »der Jude«, wenn nicht »der Israeli«, obwohl ich kaum etwas mit Israel am Hut hatte. Ich akzeptierte irgendwann, dass ich nie wirklich dazu gehören werde, weder zu Deutschland noch zu den Muslimen - und leider auch nicht zu den Berliner Juden, mit denen mich damals absolut gar nichts verband.

Ich wanderte aus. Nach Israel. Um das Leben führen zu können, dass meine Eltern mir mit ihrem Umzug aus dem Iran nach Deutschland ermöglichen wollten - ein freies Leben. Ein freies Leben als Jude.

Seit fast 20 Jahren lebe ich nun in Israel. Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass es dieses Land gibt. Ja, auch Israel hat unendlich viele Probleme, so wie Deutschland und alle anderen Länder auf der Welt, aber es gibt mir Freiheit. Nichts ist wichtiger als Freiheit. Und: Es gibt mir das Gefühl, dass wir Juden heute keine Opfer mehr sind.

Israel ist heute stärker als je zuvor. Wir haben es nicht mehr nötig, aus der Angst heraus zu agieren.

Die Geschichten von Anne Frank in Nazi-Deutschland, Arye Sharuz Shalicar in Berlin-Wedding und Tausend anderen jüdischen Biografien haben uns klargemacht, dass wir Juden nie wieder Opfer sein dürfen. Wir müssen in der Lage sein, uns selbst zu verteidigen. Ob Israel oder Juden in der Diaspora, wir können uns einfach nicht mehr erlauben, schwach zu sein, denn als wir schwach waren, wurden wir gedemütigt, verfolgt und ermordet.

Deutschland hat versucht, die Juden auszulöschen. Mehrere arabische Staaten haben in mehreren Kriegen versucht, Israel zu überrollen. Das islamische Regime in Teheran fantasiert nach wie vor davon, den jüdischen Staat zu vernichten, während ich diese Zeilen hier schreibe.

Wir müssen stark sein. Wir müssen den Antisemiten überall auf der Welt immer überlegen sein. Ihnen immer und überall mehrere Schritte voraus sein.

Der Friedenswille unter Israelis und Juden weltweit ist tief verankert - und ein täglicher Wunsch. Auch in mir. 

Israel ist heute stärker als je zuvor. Wir haben es nicht mehr nötig, aus der Angst heraus zu agieren. Heute müssen wir stark und überlegen sein. Sowohl in Israel als auch in den jüdischen Gemeinden weltweit. Wer uns angreift, egal wo, ist ein Verlierer, bemitleidenswert und das eigentliche Opfer.

STÄRKE Aus der Stärke heraus und nur aus der Stärke wird Israel es hoffentlich auch schaffen, Frieden mit weiteren arabischen Staaten zu schließen.

Der Friedenswille unter Israelis und Juden weltweit ist tief verankert - und ein täglicher Wunsch. Auch in mir. 

Arye Sharuz Shalicar ist ein deutsch-iranisch-israelischer Politologe, Publizist und Buchautor.

Debatte

»Hitler hatte eine unentdeckte genetische sexuelle Störung«

Eine neue britische Dokumentation über Adolf Hitler sorgt für Diskussionen: Kann die Analyse seiner DNA Aufschluss über die Persönlichkeit des Massenmörders geben?

 15.11.2025

Deutschland

Auschwitz-Komitee: Geplante Auktion ist schamlos 

Ein Neusser Auktionshaus will einen »Judenstern« und Briefe von KZ-Häftlingen und deren Angehörigen versteigern. Das internationale Auschwitz-Komitee reagiert

 15.11.2025

Debatte

Verbot durch US-Präsident Trump: Wie gefährlich ist die »Antifa-Ost« wirklich?

In einem ungewöhnlichen Schritt stuft die Trump-Regierung vier linksextreme Organisationen als Terrorgruppen ein - in Europa. Betroffen ist auch eine Gruppierung in Deutschland

von Luzia Geier  14.11.2025

Nahostkonflikt

Indonesien will 20.000 Soldaten für Gaza-Truppe bereitstellen

Der US-Plan für die Stabilisierung des Küstenstreifens sieht eine internationale Eingreiftruppe vor. Einige Staaten haben bereits Interesse bekundet

 14.11.2025

Terror

Mutmaßliches Hamas-Mitglied in U-Haft

Der Mann soll Waffen für Anschläge auf jüdische und israelische Ziele transportiert haben

 14.11.2025

Ehrung

Göttinger Friedenspreis für Leon Weintraub und Schulnetzwerk

Zwei Auszeichnungen, ein Ziel: Der Göttinger Friedenspreis geht 2026 an Leon Weintraub und ein Schulprojekt. Beide setzen sich gegen Rassismus und für Verständigung ein

von Michael Althaus  13.11.2025

Gastbeitrag

Kein Ende in Sicht

Der Antisemitismus ist in den vergangenen zwei Jahren eskaliert. Wer jetzt glaubt, dass es eine Rückkehr zum Status vor dem 7. Oktober 2023 gibt, macht es sich zu leicht. Denn auch vor dem »Schwarzen Schabbat« trat der Antisemitismus zunehmend gewaltvoller und offener zutage

von Katrin Göring-Eckardt, Marlene Schönberger, Omid Nouripour  13.11.2025

Israel

Altkanzlerin Merkel besucht Orte der Massaker

Angela Merkel besuchte den Ort des Nova-Festivals und den Kibbuz Nahal Oz

 13.11.2025

Schleswig-Holstein

Polizei nimmt weiteren Hamas-Terroristen fest

Mahmoud Z. soll ein Sturmgewehr, acht Pistolen und mehr als 600 Schuss Munition für Anschläge gegen jüdische und israelische Einrichtungen organisiert haben

 13.11.2025