Berlin

Mehr als zwei antisemitische Vorfälle pro Tag

Benjamin Steinitz, geschäftsführender Vorstand des Bundesverband RIAS e.V. Foto: picture alliance/dpa

Sie werden angespuckt, bedroht, geschlagen: Der Gang auf die Straße ist für viele Berliner Jüdinnen und Juden oft weiterhin ein Spießrutenlauf. Trotz eines Rückgangs wurden im ersten Halbjahr 2022 stadtweit noch 450 antijüdische Vorfälle gezählt.

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) dokumentierte damit nach eigenen Angaben vom Dienstag zwischen Januar und Juni durchschnittlich mehr als zwei antisemitische Vorfälle pro Tag. Darunter waren unter anderem neun Angriffe, zehn gezielte Sachbeschädigungen, zehn Bedrohungen und 417 Fälle verletzenden Verhaltens. Die Vorfälle hätten sich in der großen Mehrheit unmittelbar gegen jüdische, israelische oder als solche wahrgenommene Personen oder Institutionen gerichtet.

Belastung Laut RIAS waren das zwar rund 120 Vorfälle weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Damals waren der Informationsstelle 574 Übergriffe gemeldet worden. Ein Grund für Entwarnung sei das aber nicht, erklärte Projektleiter Benjamin Steinitz: »Unser Bericht zeigt, dass Berliner Jüdinnen und Juden kontinuierlich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen mit Antisemitismus konfrontiert werden.« Das Wissen darüber belaste den Alltag vieler Jüdinnen und Juden.

Die Täter nehmen dabei laut RIAS in vielen Fällen jüdische oder israelische Symbole oder Zeichen zum Anlass. So spuckte am 22. Februar ein Mann in Berlin-Mitte eine Frau an, die einen Beutel mit einem Davidstern trug. Am 10. März schlug ein Mann einem jüdischen Touristen in einem Hostel im Prenzlauer Berg die Kippa vom Kopf und verlangte, dass er »Free Palestine« sagt. Am 29. Mai näherten sich zwei Männer in Neukölln einer Person mit Davidstern-Kette und taten so, als ob sie sie angreifen wollten.

Bei fast jedem dritten Vorfall wurde die Erinnerung an die Schoa auf antisemitische Weise abgewehrt oder bagatellisiert.

Hass und Hetze sind die Betroffenen aber auch im Internet ausgesetzt. In Berlin ansässige jüdische Organisationen wurden laut Steinitz zwischen Januar und Juni durchschnittlich 1,5-mal pro Tag unter anderem auf Social-Media-Plattformen antisemitisch angefeindet. Insgesamt wurden laut RIAS im Berichtszeitraum 299 antisemitische Vorfälle im Internet gemeldet.

Jenseits des Internets passierten laut der Meldestelle die meisten Vorfälle auf der Straße, gefolgt von Fällen in Bussen, Tram, S- und U-Bahnen. Hier kam es zu 27 antisemitischen Vorfällen, unter anderem zu mehr als der Hälfte der registrierten tätlichen antisemitischen Angriffe.

Normalisierung Bei fast jedem dritten Vorfall wurde die Erinnerung an die Schoa auf antisemitische Weise abgewehrt oder bagatellisiert. Dazu gehörten Schmierereien wie »Damals die Juden, heute die Ungeimpften« oder »Impfen macht frei«. Bejamin Steinitz formulierte angesichts dieser Sprüche einen gesellschaftlichen Auftrag: »Staat, Parteien, Medien und Zivilgesellschaft sind angehalten, der fortschreitenden Normalisierung von Angriffen auf die Erinnerung aus den unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Milieus mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegen zu wirken.«

Den dennoch deutlichen Rückgang der Vorfälle führt der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn unter anderem darauf zurück, dass einige Versammlungen, die sich gegen Israel richten sollten, im April und Mai 2022 verboten wurden. Zudem gebe es bei den Berliner Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden eine große Sensibilität für das Thema. Sigmount Königsberg, der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde Berlin, konstatierte, dass die Maßnahmen des Berliner Senats »das Sicherheitsgefühl Berliner Jüdinnen und Juden erhöht« hätten. epd/ja

Kommentar

Den Nachkommen der Schoa-Opfer kaltschnäuzig und nassforsch die Leviten gelesen

Ausgerechnet zum 60. Jubiläum der deutsch-israelischen Beziehungen kritisiert die ARD-Korrespondentin Sophie von der Tann die Kriegsführung in Gaza, und das auch noch, ohne die Hamas zu erwähnen

von Esther Schapira  16.05.2025

Nahost-Diplomatie

Medien: Syrien und Israel führen indirekte Gespräche. Trump: »Al-Sharaa ist ein starker Typ«

Der US-Präsident forciert bei seinem Nahostbesuch die Idee weiterer Abraham-Abkommen mit Israel - auch Syrien soll Interesse signalisiert haben

 16.05.2025

Justiz

Ankläger von Weltstrafgericht tritt zurück

Chefankläger Karim Khan wird des sexuellen Missbrauchs beschuldigt

 16.05.2025

Interview

»Es hätte viel kürzer und klarer sein müssen«

Peter Neumann über das AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes, die internationale Debatte darüber und ein mögliches Verbotsverfahren gegen die rechtsextreme Partei

von Nils Kottmann  16.05.2025

Gedenken

Sinti und Roma erinnern an Widerstand in Auschwitz-Birkenau

An diesem Tag sollte der Lagerabschnitt B II e, das sogenannte »Zigeunerlager«, in dem Tausende von Sinti und Roma inhaftiert waren, aufgelöst und sämtliche Häftlinge in den Gaskammern ermordet werden

 16.05.2025

Interview

»Außenpolitik geht nicht mit Belehrungen«

Der Bundestagsabgeordnete Armin Laschet (CDU) über die Nahostpolitik der neuen Bundesregierung, deutsche Geiseln in Gaza und die Zukunft der Abraham Accords

von Joshua Schultheis  16.05.2025

Berlin

»Die rohe Gewalt der Demonstranten erschüttert mich«

Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, verurteilt Angriffe gegen Polizisten bei israelfeindlicher Kundgebung

von Imanuel Marcus  16.05.2025

Tel Aviv/Ravensburg

Ricarda Louk kämpft für das Andenken an ihre Tochter Shani

Am 7. Oktober 2023 wollte Ricarda Louks Tochter mit anderen jungen Menschen tanzen und feiern – dann kam das Massaker der Hamas. Vor einem Jahr wurde Shanis Leiche gefunden. So geht es ihrer Familie heute

 16.05.2025

Berlin

Polizist von Israelhassern beinahe zu Tode geprügelt – 56 Festnahmen bei »propalästinensischer« Demonstration

Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) verurteilt die Tat und die bei der Kundgebung verbreitete »antisemitische Hetze«

von Imanuel Marcus  16.05.2025 Aktualisiert