Brüssel

Margot Friedländer im Europaparlament: »Seid Menschen!«

Der Brüsseler Plenarsaal des Europäischen Parlaments war längst nicht bis auf den letzten Platz gefüllt, wie das in früheren Jahren der Fall war. Aber für die auch im Hohen Haus geltenden strengen Coronabedingungen war er doch ziemlich voll.

Und man merkte vielen Abgeordneten an, dass das alljährliche Gedenken an die Opfer des Holocaust für sie kein bloßer Pflichttermin zur Mittagsstunde war. Ein Grund war die zierliche alte Frau, die da eine halbe Stunde lang auf Deutsch mit klaren, eindringlichen Worten zu ihnen sprach.

Die 100-jährige Margot Friedländer war als Zeitzeugin eingeladen – sie hatte die Schoa zuerst im Versteck überlebt und das Lager Theresienstadt nördlich von Prag.

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Ihre Erlebnisse dort stellte sie in den Mittelpunkt ihrer Rede. Sie schilderte die Ankunft von Menschen aus Auschwitz in Theresienstadt im Frühjahr 1945. Die Insassen des Todeslagers waren in den letzten Tagen vor der Befreiung am 27. Januar 1945 noch auf einen Todesmarsch geschickt worden und fast drei Monate lang unterwegs gewesen.

»Man konnte die Lebenden nicht von den Toten unterscheiden. Menschen, die kaum noch wie Menschen aussahen. Fast alle trugen gestreifte Pyjamas.« Fast alle seien Männer gewesen, hätten aber auf den ersten Blick geschlechtslos gewirkt, so abgemagert und erschöpft sahen sie aus. Einer der Ankömmlinge sei ihr nur in die Arme gefallen, schilderte Friedländer. Er sei so schwach gewesen, dass sie ihn habe tragen müssen.

AUSCHWITZ »In diesem bekam ›der Osten‹ einen Namen. In diesem Moment erfuhren wir von den Todeslagern. In diesem Moment wusste ich, dass ich meine Mutter und meinen Bruder nicht wiedersehen würde. Jetzt hatte ich keine Hoffnung mehr«, berichtete sie den Abgeordneten von ihrer Verzweiflung. »Was war mein Überleben da noch wert?«, habe sie sich damals gefragt.

Als am 5. Mai 1945 die SS das Lager verlassen hatten und wenig später Jeeps mit der Flagge des Roten Kreuzes eingefahren sind, hatte es von den Insassen in Theresienstadt kaum jemand so richtig wahrgenommen. »Niemand freute sich, niemand änderte seinen Tagesablauf.«

Erst drei Tage später, am 8. Mai, so Friedländer, hätten die sowjetische Armee die Kommandantur von Theresienstadt übernommen. »Auf müden Pferden ritten müde Soldaten herein.« Sie habe zunächst gar nicht fort wollen von dem Ort, sondern nur schauen, ob man »rausgehen kann, ohne erschossen zu werden.«

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Nun seien die vormaligen »Herrenmenschen« verpflichtet worden, im Lager die Drecksarbeit dort zu verrichten – mit einem Hakenkreuz auf der Kleidung. Da habe sie gedacht: »Ja, es gibt doch einen Gott«. Den Tag der Befreiung, der auch das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa war,  erlebte Margot zusammen mit Adolf Friedländer, den sie schon aus Berliner Zeiten kannte und der ebenfalls nach Theresienstadt deportiert worden war.

Der machte ihr umgehend einen Heiratsantrag. Auch wenn sie sich überrumpelt fühlte – »ich war nicht in Adolf verliebt« - willigte sie ein. »Ich brauchte Zeit, wieder ein Mensch zu werden. Adolf ging es genauso. Der Schmerz brachte uns einander mehr näher als Verliebtsein.« Adolf trug den Ehering seines Vaters am Finger – das einzige Schmuckstück, das den von den Nazis deportierten Juden nicht abgenommen wurde. Am 26. Juni, sechs Wochen nach der Befreiung, wurden Margot und Adolf noch in Theresienstadt von einem Rabbiner getraut.

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Nach einem Jahr in einem Displaced Persons-Lager im niederbayerischen Deggendorf gingen sie gemeinsam im Juli 1946 nach New York. In den darauffolgenden Jahren, so Margot Friedländer, seien sie zwar viel umhergereist, auch nach Europa, aber nur einmal für drei Tage in Deutschland gewesen, in München. In ihre Heimatstadt Berlin habe ihr Mann Zeit seines Lebens nicht mehr zurückwollen. Erst sechs Jahre nach Adolfs Tod 1997 habe sie Berlin zum ersten Mal seit ihrer Deportation wieder besucht.

BOTSCHAFT 2008 habe sie ihre Erinnerungen zu Papier gebracht, und zwei Jahre später traf sie dann die Entscheidung, mit 88 Jahren wieder in ihre Geburtsstadt zurückzuziehen – nach immerhin 64 Jahren in New York. »Ich bin zurückgekommen, um euch zu bitten, die Zeitzeugen zu sein.« Das sei ihre Botschaft an die jungen Menschen, denen sie über ihre Lebensgeschichte erzähle, so Margot Friedländer.

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Jedem Menschen gebühre Respekt. »Es gibt kein christliches, kein jüdisches, kein muslimisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Wir sind alle gleich. Was war, war. Wir können es nicht mehr ändern. Es darf nie, nie wieder geschehen. Ich spreche nicht nur für die sechs Millionen Juden, die man umgebracht hat, sondern für alle, die durch das nationalsozialistische Regime umgebracht worden sind. Ich sage nochmals: Seid Menschen!«

SORGE Zum Schluss ihrer Rede wird Friedländer dann deutlich – und spricht die Abgeordneten im Saal direkt an. »Sie in diesem Hohen Haus repräsentieren Millionen von Menschen auf diesem Kontinent.« Man stehe vor enormen Herausforderungen. »Mit großer Sorge sehe ich, dass der Holocaust wie der nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungskrieg immer mehr in Vergessenheit gerät. Wir sind die letzten Überlebenden, die davon noch berichten können. Heute sehe ich, wie die Erinnerung an das, was geschehen ist, politisch missbraucht, manchmal sogar verhöhnt und mit Füßen getreten werden.«

Margot Friedländer weiter: »Ungläubig musste ich mit meinen nunmehr 100 Jahren sehen, wie Symbole der Ausgrenzung durch die Nazis, der sogenannte Judenstern, heute von den Feinden der Demokratie auf offener Straße schamlos benutzt wird, um sich selbst als Opfer zu stilisieren. An einem Tag wie heute müssen wir zusammenstehen, damit die Erinnerung an den Holocaust wahrhaftig bleibt«, forderte sie abschließend. Sie habe selbst erleben müssen, wie Menschen anderen Menschen das Menschsein abgesprochen hätten. »Das darf nie wieder passieren. Deshalb müssen wir auch jetzt wachsam bleiben«.

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Für ihre Rede bekam Friedländer langen Applaus. Nicht nur zahlreiche Abgeordnete, sondern auch die deutsche Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, sowie der EU-Ratspräsident, der Belgier Charles Michel, waren in den Plenarsaal gekommen und richteten sich in ihren Ansprachen mehrfach direkt an Margot Friedländer.

Zu Beginn der Gedenkstunde hatte die vergangene Woche gewählte Präsidenten des Europaparlaments, die Christdemokratin Roberta Metsola aus Malta, erklärt: »Am Holocaust-Gedenktag erinnern wir an die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Vergangenheit, aber wir erinnern auch daran, wie wichtig es ist, in der Gegenwart die Stimme zu erheben, in Vielfalt geeint, gegen Holocaust-Leugner, gegen Verschwörungsmythen, gegen Desinformation und gegen jede Art von Gewalt, die gegen Mitglieder unserer Gesellschaft gerichtet ist und sie ausgrenzt«. Man dürfe sich »niemals selbstzufrieden zurücklehnen«, betonte Metsola.

Michel nannte die Schoa eine europäische Tragödie. »Wir Europäer sind alle Erben dieser Geschichte, unserer Geschichte. Wir alle sind die Hüter dieser Erinnerung, unserer Erinnerung.« Der frühere belgische Premierminister weiter: »Europa wäre nicht das, was es heute ist, ohne die Beiträge, die das jüdische Volk über viele Jahrhunderte hinweg geleistet hat. Europa ist die Heimat des jüdischen Volkes.«

WÜRDE Deshalb sei heute, da der Antisemitismus in Europa wieder aufflamme, die Vorstellung, dass Juden angegriffen würden, nur weil sie Juden seien, »absolut unerträglich«, so Michel.

Ursula von der Leyen wandte sich auf Englisch an Margot Friedländer und dankte ihr für ihr großes Engagement als Zeitzeugin. »Ihr Lebensbericht, liebe Margot Friedländer, und Ihre Kraft im Alter von 100 Jahren, belegen, dass Würde und Identität unzerstörbar sind. Es muss ungeheuer schwer sein, liebe Frau Friedländer, diese Erinnerungen wieder hervorzuholen. Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Was Sie tun, ist ein Akt größter Menschenliebe für uns alle und für künftige Generationen. Denn Sie öffnen uns die Augen und vermitteln uns ein Gefühl von Freiheit. Unsere Freiheit gründet auf dem Gedenken an den Holocaust. Denn der Grundgedanke bei der Gründung unserer Union lässt sich in zwei Worten wiedergeben: ›Nie wieder‹!«

Mit einem Lächeln im Gesicht und bei zwei Mitarbeitern des Europaparlaments untergehakt verließ Margot Friedländer den Plenarsaal in Brüssel. Sie hatte die Abgeordneten einen Moment lang die Mühen des parlamentarischen Alltags vergessen lassen. Und sie hat bei den ausgebufften Politprofis sicherlich nicht weniger Eindruck hinterlassen als bei den vielen Schülern, denen sie in den letzten Jahren aus ihrem Leben berichtet hatte.

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