Interview

»Jüdische Ethik kann sich von der der Kirchen unterscheiden«

Zentralratspräsident Josef Schuster Foto: dpa

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, wurde Ende April als neues Mitglied in den Deutschen Ethikrat berufen. Schuster vertritt in dem Gremium die jüdische Perspektive auf ethische Belange. Am 28. Mai soll der Ethikrat in seiner neuen Zusammensetzung das erste Mal in Berlin tagen. Im Interview spricht er über die jüdische Ethik, Präimplantationsdiagnostik, die Corona-Pandemie und die Frage, ob ein Immunitätsausweis sinnvoll ist.

Herr Schuster, welche Schwerpunkte möchten Sie künftig als Arzt und Vertreter des Judentums im Deutschen Ethikrat setzen?
Man kann in das Gremium zwar Themenvorschläge einbringen, es ist aber natürlich auch so, dass die Politik viele Anliegen zur Einschätzung an uns heranträgt. Wir sind insgesamt 24 Mitglieder, und jeder von uns hat seine Vorstellungen. Ich bin Internist, und aus meiner Sicht ist es wichtig, dass auch Menschen im Ethikrat sitzen, die nicht nur die wissenschaftliche Perspektive haben, sondern auch den Alltag etwa als Arzt kennen und damit nah am Praktischen sind.

Wird darauf also ihr Fokus liegen?
Für mich spielt vor allem die Medizinethik eine Rolle. Aber natürlich reichen meine Interessen auch darüber hinaus. Ich möchte insgesamt ethische Vorstellungen des Judentums einbringen. Denn die unterscheiden sich mitunter von denen der Kirchen.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Zunächst einmal bilden die Zehn Gebote für uns dieselbe Grundlage. Unterschiedliche Sichtweisen haben wir aber zum Beispiel bei der Präimplantationsdiagnostik. Die Kirchen lehnen die PID ab. Bei uns ist das anders, denn in der Vorstellung des Judentums wird ein Embryo erst 40 Tage nach der Befruchtung beseelt und zudem als Teil der Mutter betrachtet. Insgesamt kann ich aber sagen, auch mit Blick auf die Muslime, die ja ebenfalls eine Vertreterin im Ethikrat haben, dass sich ethische Überzeugungen in den einzelnen Religionsgemeinschaften in vielen Punkten decken.

Welche Bedeutung hat es aus Ihrer Sicht, dass Experten mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen in dem Gremium sitzen?
Das kann natürlich zu einer Bereicherung führen.

Wegen der Corona-Pandemie hatte der Deutsche Ethikrat zuletzt, also vor Ihrer Mitgliedschaft, Empfehlungen zur Triage vorgelegt. Dabei geht es um die Entscheidung, welcher Patient bei unzureichenden Behandlungskapazitäten zuerst medizinisch versorgt würde. Dabei betont das Gremium, dass der Staat alles tun muss, um eine solche Situation zu vermeiden, aber im Fall der Fälle eine Auswahl ausschließlich nach medizinischen Kriterien erfolgen darf.
Ja. Für mich persönlich ist die Triage nichts Neues, denn ich bin auch im Rettungsdienst tätig und muss solche Entscheidungen durchaus leider manchmal treffen. Das Kriterium ist dabei, dass derjenige, der die größten Chancen hat, von notwendigen Maßnahmen zu profitieren, auch entsprechend versorgt wird. Das sind sehr harte Entscheidungen, die zum Glück nur sehr selten notwendig sind. Auch im Falle einer Pandemie sollten sie die Ausnahme bleiben.

Kürzlich haben Sie sich skeptisch zum Corona-Immunitätsausweis geäußert. Diese Idee liegt zwar derzeit auf Eis. Allerdings hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den Ethikrat um eine Einschätzung gebeten.
Ich sehe den Immunitätsausweis in der Tat kritisch. Wenn ein Mensch den Wunsch hat, sich testen zu lassen, ist das sein gutes Recht. Und wenn er das Ergebnis schriftlich haben möchte, soll er das haben. Die Frage ist dann aber, was mit dem Papier passiert? Es kann ein Spannungsfeld entstehen: Einerseits sind da die Menschen, die sich an Hygiene- und Abstandsregeln gehalten haben, andererseits die Menschen, die eine Infektion in Kauf nehmen, um eine mögliche Immunität zu erlangen und damit auch den Immunitätspass. Soll dann die erste Gruppe etwa bei einem Restaurantbesuch benachteiligt werden und keinen Platz erhalten? Das kann nicht sein.

Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ist hier und da auch außerhalb des Judentums von dem Prinzip Pikuach Nefesch zu hören. Es steht auch ganz oben über dem Hygienekonzept des Zentralrats, das die Grundlage dafür ist, dass auch in Synagogen wieder Gottesdienste erlaubt sind. Was hat es damit auf sich?
Das ist ein ganz wichtiger religiöser Grundsatz im Judentum. Er kann die 613 Ge- und Verbote, die es gibt, aussetzen - abgesehen von den Verboten von Mord, von Inzest und von Götzendienst. Es geht darum, dass die Rettung gefährdeten Lebens unbedingten Vorrang hat. Dieses Prinzip wird unter religiösen Juden allgemein akzeptiert. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem medizinischen Bereich: Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Tuberkulose-Kranken empfohlen, zu ihrer Genesung und damit zu ihrem Überleben Schweinefleisch zu essen. Das wurde dann auch wegen Pikuach Nefesch unter Juden praktiziert, obwohl das Schwein im Judentum unrein, nicht koscher ist.

Das Interview mit dem Zentralratspräsidenten führte Leticia Witte.

Jubiläum

Stimme der Demokratie

Vor 75 Jahren wurde der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet. Heute hat das Gremium vielfältige Aufgaben und ist unverzichtbarer Teil dieses Landes

von Detlef David Kauschke  17.09.2025

Europäische Union

Wie die EU-Kommission Israel sanktionieren will

Ursula von der Leyens Kommission will Israel alle Handelsvergünstigungen streichen. Doch eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten ist (noch) nicht in Sicht. Die Hintergründe

von Michael Thaidigsmann  17.09.2025

Meinung

Sánchez missbraucht ein Radrennen für seine Israelpolitik

Dass Spaniens Regierungschef die Störer der Vuelta lobte, ist demokratieschwächend und gehört zu seinem Kalkül, Israel weltweit zu isolieren

von Nicole Dreyfus  17.09.2025

Meinung

Die Tränen des Kanzlers

Bei seiner Rede in München gab Friedrich Merz ein hochemotionales Bekenntnis zur Sicherheit jüdischen Lebens ab. Doch zum »Nie wieder dürfen Juden Opfer werden!« gehört auch, den jüdischen Staat nicht im Stich zu lassen

von Philipp Peyman Engel  17.09.2025

Zentralrat

Schuster: Zwei-Staaten-Lösung nach Friedensverhandlungen mit Israel

Ein jeweils selbstständiger Staat Israel und Palästina - dafür spricht sich auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland aus. Unter bestimmten Voraussetzungen

von Leticia Witte  17.09.2025

Köln

Antisemitische Ausschreitungen bei Kreisliga-Spiel

Spieler des Vereins Makkabi wurden offenbar beschimpft, bespuckt und körperlich attackiert

 17.09.2025

Antisemitismus

Berliner Treitschkestraße wird am 1. Oktober umbenannt

Der Straßenname erinnert künftig an die im KZ Theresienstadt gestorbene ehemalige Direktorin des früheren jüdischen Blindenheims von Steglitz, Betty Katz (1872-1944)

 17.09.2025

Kritik

Toni Krahl hat »kein Verständnis« für israelfeindliche Demonstrationen

Was in der Region um Israel passiere, sei ein Drama, das sich über Jahrzehnte entwickelt habe, sagte Krahl

 17.09.2025

Berlin

Ahmetovic: Berlin muss Weg für Israel-Sanktionen freimachen

Der SPD-Politiker fordert, dass die schwarz-rote Koalition ihre »Blockadehaltung« beendet und die Vorschläge von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für konkrete Maßnahmen gegen den jüdischen Staat unterstützt

 17.09.2025